Rousseau's Bekenntnisse
bedarf, um meinen Muth wieder zu beleben und die Verdrießlichkeiten meiner übrigen Lebensjahre zu ertragen!
Eines Tages in aller Frühe schien mir die Morgenröthe so schön, daß ich mich schnell ankleidete und in das Freie hinauseilte, um die Sonne aufgehen zu sehen. Ich weidete mich an diesem Anblicke mit freudigem Herzen; es war in der Woche nach Johanni. Die Erde, die ihren schönsten Schmuck angelegt hatte, war mit Kräutern und Blumen bedeckt; die Nachtigallen, schon fast am Ende ihrer Schlagezeit, schienen ihre Lust daran zu haben, nur um so lieblicher zu singen; alle Vögel, die im Chore dem Frühling ihr Lebewohl nachriefen, verkündeten singend den Anbruch eines schönen Sommertages, eines jener schönen Tage, die man in meinem Alter nicht mehr erlebt, und die man auf dem armseligen Boden, auf dem ich jetzt wohne, [Fußnote: Zu Wootton in Staffordshire] nie erlebt hat.
Ich hatte mich unmerklich von der Stadt entfernt; die Hitze nahm zu, und ich schritt im Schatten eines kleinen Thales an einem Bache entlang. Hinter mir vernehme ich Hufschläge und Stimmen von Mädchen, die verlegen schienen, aber trotzdem nicht weniger herzlich lachten. Ich wende mich um; man ruft mich bei Namen; ich gehe auf sie zu und treffe zwei mir bekannte junge Mädchen, Fräulein von Graffenried und Fräulein Galley, die, da sie es in der Reitkunst nicht weit gebracht hatten, nicht wußten, wie sie ihre Pferde zum Durchschreiten des Baches bewegen sollten. Fräulein von Graffenried war eine junge, sehr liebenswürdige Bernerin, die eine Jugendthorheit veranlaßt hatte, ihre Heimat zu verlassen, und die nun Frau von Warens nachahmte, bei welcher ich sie hin und wieder gesehen hatte. Da sie jedoch nicht gleich dieser eine Pension erhalten hatte, so war es für sie ein großes Glück gewesen, daß sie einen Anhalt an Fräulein Galley gefunden hatte, die in ihrer Freundschaft für sie ihre Mutter überredet hatte, sie, bis man derselben ein Unterkommen verschaffen könnte, ihr zur Gesellschafterin zu geben. Fräulein Galley war ein Jahr jünger als sie und noch hübscher; sie hatte etwas Anmuthigeres, Feineres, wenn ich auch nicht sagen kann in wie fern; trotz aller Zierlichkeit war sie doch schon vollkommen entwickelt, was für ein Mädchen der schönste Zeitpunkt ist. Beide liebten sich zärtlich, und diese Eintracht versprach bei dem gutmüthigen Charakter Beider von langer Dauer zu sein, wenn nicht irgend ein Anbeter als Störenfried erschien. Sie sagten mir, daß sie auf dem Wege nach Toune wären, einem alten, der Frau Galley gehörenden Schlosse; sie erbaten meinen Beistand, die Pferde durch das Wasser zu bringen, da sie allein damit nicht zu Stande kommen könnten. Ich wollte die Pferde mit der Peitsche antreiben, aber die Damen fürchteten, ich könnte im Falle ihres Ausschlagens verletzt und sie bei ihren Sprüngen abgeworfen werden. Ich nahm meine Zuflucht zu einem andern Mittel; ich ergriff das Pferd des Fräulein Galley am Zügel und schritt dann, es nach mir ziehend, durch den Bach, wobei mir das Wasser bis an die Waden reichte; und das andere Pferd folgte ohne Schwierigkeit. Nach dieser Heldenthat wollte ich den Damen einen Gruß zuwerfen und wie ein Einfaltspinsel von dannen gehen; sie flüsterten sich leise einige Worte zu, und Fräulein von Gaffenried sagte dann, indem sie sich zu mir wandte: »O nein, o nein, so entrinnt man uns nicht. In unserm Dienste haben Sie sich naß gemacht, und unser Gewissen gebietet uns deshalb dafür zu sorgen, daß Sie wieder trocken werden. Sie müssen gefälligst mit uns kommen; wir erklären Sie für unsern Gefangenen.« Mir schlug das Herz; ich blickte Fräulein Galley an. »Ja, ja,« fügte sie, über meine bestürzte Miene lachend, hinzu, »für unsern Kriegsgefangenen. Steigen Sie hinter ihr auf, wir wollen die Verantwortung für Sie übernehmen.« – »Aber, Fräulein, ich habe nicht die Ehre, Ihrer Frau Mutter bekannt zu sein. Was wird sie sagen, wenn sie mich ankommen sieht?« – »Ihre Mutter«, erwiderte Fräulein von Graffenried, »ist nicht in Toune, wir sind allein; wir kehren heute Abend zurück, und Sie werden mit uns zurückkommen.«
Die Elektricität übt keine schnellere Wirkung aus, als diese Worte es auf mich thaten. Als ich auf das Pferd des Fräulein von Graffenried sprang, zitterte ich vor Freude, und als ich sie, um mich zu halten, umfassen mußte, klopfte mir das Herz so stark, daß sie es hörte. Sie sagte mir, auch das ihrige klopfe aus Angst zu fallen.
Weitere Kostenlose Bücher