Rousseau's Bekenntnisse
beklommen.
Venture theilte mir mit, daß er meinetwegen mit dem Herrn Amtsrichter geredet und die Absicht hätte, mich am nächsten Tage zum Essen zu ihm zu führen; derselbe wäre im Stande, mir durch seine Freunde zu einer Stellung zu verhelfen, obendrein auch eine vielversprechende Bekanntschaft, ein geistreicher und gebildeter Mann, von sehr geselligem Charakter, talentvoll und ein Bewunderer aller Talente. Nach seiner Gewohnheit darauf die albernste Leichtfertigkeit in die ernstesten Sachen mischend, zeigte er mir ein so eben aus Paris eingetroffenes Liedchen, nach einer Melodie aus einer Oper von Mouret, welche damals häufig gespielt wurde. Dieses Lied hatte Herrn Simon, so hieß nämlich der Amtsrichter, so vorzüglich gefallen, daß er nach derselben Melodie ein anderes zur Erwiderung dichten wollte; er hatte Venture ebenfalls um Abfassung eines solchen gebeten, und dieser war so thöricht, mich zur Anfertigung eines dritten aufzufordern, damit man, wie er sich ausdrückte, am nächsten Tage die Lieder ankommen sähe wie die Sänften im Lustspiel Roman.
Da ich in der Nacht nicht schlafen konnte, brachte ich meine Reimerei, so gut ich konnte, zu Stande. Für die ersten Verse, die aus meiner Feder geflossen, waren sie leidlich, sogar besser, oder wenigstens tieffühlender, als sie einen Tag früher ausgefallen wären, da ich in ihnen ein sehr zärtliches Verhältnis besang, für welches mein eigenes Herz bereits zu erglühen begann. Am Morgen zeigte ich Venture mein Lied, das er, da es seinen Beifall fand, in die Tasche steckte, ohne mir zu sagen, ob er das seinige gemacht hätte. Zur Mittagszeit begaben wir uns zu Herrn Simon, der uns freundlich aufnahm. Die Unterhaltung war lebhaft und anregend; bei zwei geistreichen Männern, die große Belesenheit besaßen, ließ sich das nicht anders erwarten. Die Rolle, die mir zufiel, war schweigen und zuhören. Keiner von beiden erwähnte des Liedes; ich sprach eben so wenig davon, und nie ist, so viel ich weiß, von dem meinen die Rede gewesen.
Herrn Simon schien mein anständiges Benehmen zu gefallen, denn weiter konnte er bei dieser Zusammenkunft schwerlich etwas von mir kennen lernen. Er hatte mich schon mehrmals bei Frau von Warens gesehen, ohne mich einer näheren Beachtung zu würdigen. Deshalb kann ich erst von diesem Mittagsessen an meine Bekanntschaft mit ihm rechnen, die mir zwar hinsichtlich des erstrebten Zweckes keinen Nutzen gewährte, aber späterhin andere Vortheile brachte, um deren willen ich seiner nur mit Freuden gedenke.
Ich würde Unrecht thun, wenn ich sein Aeußeres mit Stillschweigen überginge. Bei seiner Eigenschaft als Beamter und Schöngeist, worauf er stolz war, würde man sich von demselben ohne eine Schilderung keinen Begriff machen können. Der Herr Amtsrichter Simon war sicherlich keine zwei Fuß hoch. [Fußnote: In seiner ersten handschriftlichen Aufzeichnung, welche der Ausgabe vom Jahre 1801 zu Grunde lag, hatte Rousseau ebenfalls zwei Fuß geschrieben, aber das Wort zwei ausgestrichen und drei darüber geschrieben, da er ohne Zweifel einsah, daß eine Größe von noch nicht ganz zwei Fuß, die er diesem Herrn beilegte, als Uebertreibung aufgefaßt worden wäre.] Seine Beine, gerade, dünn und sogar ziemlich lang, würden ihn größer gemacht haben, hätte er sie auch gerade aufgesetzt, aber sie standen auseinander wie Schenkel eines weitgeöffneten Zirkels. Sein Leib war nicht allein kurz, sondern auch dünn, und in jedem Sinne von einer unbegreiflichen Winzigkeit. Im nackten Zustande mußte er sich wie eine Heuschrecke ausnehmen. Sein Kopf von natürlicher Größe und mit einem sehr wohl gebildeten Gesichte, edlen Zügen und ziemlich schönen Augen sah aus, als wäre er auf einen Stumpf gesetzt. Großen Aufwand für Kleidung hätte er sich ersparen können, denn schon seine große Perrücke allein reichte aus, ihn von Kopf bis zu Füßen vollkommen zu umhüllen.
Er hatte zwei ganz verschiedene Stimmen, die bei der Unterhaltung unaufhörlich ineinander übergingen. Dieser Contrast war anfangs sehr belustigend, wurde aber mit der Zeit sehr unangenehm. Die eine war tief und klangvoll; sie war, wenn ich so sagen darf, die Stimme seines Kopfes. Die andere, laut, scharf und heulend, war die Stimme seines Leibes. Wenn er langsam sprach, wenn er ruhig blieb, wenn er nicht den Athem verlor, konnte er immer mit seiner vollen Stimme reden; aber sobald er nur ein wenig lebhaft wurde und erregter zu sprechen begann, schlug seine Stimme
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