Rubinrot
(Leslie meinte, Jungs ließen sich ihre Haare nur wachsen, um ihre Segelohren besser verstecken zu können.)
Er schaute ziemlich irritiert zurück, musterte mich kurz von Kopf bis Fuß und warf Mr George dann einen fragenden Blick zu.
»Gideon, das ist Gwendolyn Shepherd«, sagte Mr George mit einem kleinen Seufzer. »Gwendolyn, das ist Gideon de Villiers.«
Gideon de Villiers. Der Polospieler. Der
andere
Zeitreisende.
»Hallo«, sagte er höflich.
»Hallo.« Warum war ich auf einmal heiser?
»Ich denke, ihr beiden werdet euch noch näher kennenlernen.« Mr George lachte nervös. »Möglicherweise ist Gwendolyn unsere neue Charlotte.«
»Wie bitte?« Die grünen Augen unterzogen mich einer erneuten Musterung, diesmal nur im Gesicht. Ich konnte leider nur einfältig zurückglotzen.
»Es ist eine sehr komplizierte Geschichte«, sagte Mr George. »Am besten, Sie gehen in den Drachensaal und lassen sich alles von Ihrem Onkel erklären.«
Gideon nickte. »Da wollte ich sowieso gerade hin. Wir sehen uns, Mr George. Auf Wiedersehen, Wendy.«
Wer war Wendy?
»Gwendolyn«, verbesserte Mr George, aber da war Gideon schon um die Ecke gebogen. Seine Schritte verhallten auf der Treppe.
»Sicher hast du jede Menge Fragen«, sagte Mr George. »Ich werde sie dir beantworten, so gut ich kann.«
Ich war froh, dass ich endlich sitzen konnte, und streckte meine Beine von mir. Der Dokumentenraum hatte sich als recht behaglich herausgestellt, obwohl er tief unten in einem Gewölbekeller lag und keine Fenster hatte. In einem Kamin brannte ein Feuer und es gab Bücherregale und -schränke ringsherum sowie einladend aussehende Ohrensessel und das breite Sofa, auf dem ich jetzt saß. Als wir eingetreten waren, hatte sich ein jüngerer Mann vom Stuhl am Schreibtisch erhoben. Er hatte Mr George zugenickt und den Raum ohne ein weiteres Wort verlassen.
»War der Mann stumm?«, fragte ich, weil es das Erste war, das mir in den Sinn kam.
»Nein«, sagte Mr George. »Aber er hat ein Schweigegelübde abgelegt. In den nächsten vier Wochen wird er nicht sprechen.«
»Und was hat er davon?«
»Es ist ein Ritual. Die Adepten müssen durch eine ganze Reihe von Prüfungen gehen, bevor sie in unseren äußeren Zirkel aufgenommen werden. Dazu gehört auch und vor allem, uns zu beweisen, dass sie verschwiegen sind.« Mr George lächelte. »Du musst uns wirklich für wunderlich halten, nicht wahr? Hier, nimm die Taschenlampe. Häng sie dir um den Hals.«
»Was passiert jetzt mit mir?«
»Wir warten auf deinen nächsten Zeitsprung.«
»Wann wird der sein?«
»Oh, das kann niemand genau sagen. Es ist bei jedem Zeitreisenden anders. Es heißt, deine Urahnin Elaine Burghley - im Kreis der Zwölf die Zweitgeborene - sei in ihrem ganzen Leben nicht öfter als fünfmal gesprungen. Allerdings starb sie auch schon mit achtzehn Jahren im Kindbettfieber. Der Graf selber hingegen sprang als junger Mann alle paar Stunden, zwei bis sieben Mal am Tag. Man kann sich ausmalen, wie gefährlich er lebte, bis es ihm endlich gelang, den Nutzen des Chronografen zu begreifen.« Mr George zeigte auf das Ölgemälde über dem Kamin. Es zeigte einen Mann mit einer weißen Lockenperücke. »Das ist er übrigens. Der Graf von Saint Germain.«
»Sieben Mal am Tag?« Aber das wäre ja furchtbar. Ich würde weder in Ruhe schlafen noch zur Schule gehen können.
»Mach dir keine Sorgen. Wenn es passiert, wirst du - wann auch immer - in diesem Raum landen und dort bist du auf jeden Fall sicher. Du wartest dann einfach so lange, bis du wieder zurückspringst. Du musst dich nicht von der Stelle rühren. Für den Fall, dass du jemanden antreffen solltest, zeigst du diesen Ring.« Mr George zog sich seinen Siegelring vom Finger und reichte ihn mir. Ich drehte ihn in meiner Hand und betrachtete die Gravur. Es war ein zwölfzackiger Stern, in dessen Mitte sich verschnörkelte Buchstaben ineinanderdrehten. Die kluge Leslie hatte wieder einmal recht gehabt.
»Mr Whitman, mein Lehrer für Englisch und Geschichte, hat auch so einen.«
»War das eine Frage?« In Mr Georges Glatze spiegelte sich das Kaminfeuer. Es sah irgendwie heimelig aus.
»Nein.« Eine Antwort war gar nicht nötig. Es lag auf der Hand: Mr Whitman war auch einer von denen. Leslie hatte es ja geahnt.
»Gibt es denn nichts mehr, was du wissen möchtest?«
»Wer ist Paul und was ist mit Lucy passiert? Und von welchem Diebstahl war die Rede? Und was hat meine Mum damals getan, dass alle so sauer auf sie
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