Rubinrot
George zuckte zusammen, fuhr aber mit ruhiger Stimme fort: »Demnach wäre der letzte Zeitsprung eineinhalb bis zwei Stunden her. Wir könnten das Mädchen vorbereiten und den nächsten Zeitsprung so genau wie möglich dokumentieren.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Mr de Villiers. »Irgendwelche Einwände?«
»Genauso gut könnte ich gegen eine Mauer reden«, sagte Dr. White.
»Richtig«, stimmte ihm Tante Glenda zu.
»Ich würde dafür den Dokumentenraum vorschlagen«, sagte Mr George. »Da wäre Gwendolyn sicher und bei ihrer Rückkehr könnten wir sie sofort in den Chronografen einlesen.«
»Ich würde sie nicht mal in die Nähe des Chronografen lassen!«, sagte Dr. White.
»Himmel, Jake, jetzt ist es aber genug«, sagte Mr de Villiers. »Das ist nur ein junges Mädchen! Glaubst du, sie hat eine Bombe unter ihrer Schuluniform versteckt?«
»Die andere war auch nur ein junges Mädchen«, sagte Dr. White verächtlich.
Mr de Villiers nickte Mr George zu. »Wir machen es so, wie du vorgeschlagen hast. Kümmere dich darum.« »Komm, Gwendolyn«, sagte Mr George zu mir. Ich rührte mich nicht. »Mum?«
»Es ist in Ordnung, Liebling, ich werde hier auf dich warten.« Mum quälte sich ein Lächeln ab.
Ich schaute hinüber zu Charlotte. Sie guckte immer noch auf den Fußboden. Tante Glenda hatte die Augen geschlossen und sich resigniert zurückgelehnt. Sie sah aus, als hätten sie ebenfalls schlimme Kopfschmerzen überkommen. Meine Großmutter hingegen starrte mich an, als sähe sie mich gerade zum ersten Mal. Möglicherweise war das ja auch der Fall.
Der kleine Junge guckte wieder mit großen Augen hinter dem Jackett von Dr. White hervor. Armes, kleines Kerlchen. Der bösartige alte Knochen hatte noch nicht ein einziges Mal mit ihm gesprochen, er behandelte ihn wie Luft.
»Bis nachher, Liebling«, sagte Mum.
Mr George nahm meinen Arm und lächelte mir ermutigend zu. Ich lächelte zaghaft zurück. Ich mochte ihn irgendwie. Jedenfalls war er von all den Leuten hier mit Abstand der Freundlichste. Und der Einzige, der uns zu glauben schien.
Trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl dabei, meine Mum allein zu lassen. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel und wir im Gang standen, hätte ich beinahe angefangen zu heulen:
»Ich will bei meiner Mummy bleiben!«
Aber ich riss mich zusammen.
Mr George hatte meinen Arm losgelassen und ging vor mir her, zuerst den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren, dann durch eine Tür in einen weiteren Gang, eine Treppe hinab, durch eine neue Tür in einen neuen Gang - es war der reinste Irrgarten. Obwohl Pechfackeln wohl stilechter gewesen wären, waren die Gänge mit modernen Lampen ausgeleuchtet, die beinahe so hell wie Tageslicht wirkten.
»Zuerst erscheint es einem verwirrend, aber nach einer gewissen Zeit kennt man sich hier aus«, sagte Mr George.
Es ging wieder eine Treppe hinunter, viele Stufen diesmal, eine breite steinerne Wendeltreppe, die sich unendlich tief in den Erdboden zu schrauben schien. »Die Tempelritter haben diese Gebäude im 12. Jahrhundert errichtet, davor hatten die Römer sich hier schon versucht und vor ihnen die Kelten. Für sie alle war es ein heiliger Ort und daran hat sich bis heute nichts geändert. Man spürt das Besondere auf jedem Quadratzentimeter, findest du nicht? Als würde von diesem Stück Erde eine besondere Kraft ausgehen.«
Ich spürte nichts dergleichen. Im Gegenteil, ich fühlte mich eher schlapp und müde. Der Schlaf, den ich in der vergangenen Nacht versäumt hatte, fehlte mir.
Als wir am Ende der Treppe scharf rechts abbogen, standen wir plötzlich einem jungen Mann gegenüber. Es fehlte nicht viel und wir wären ineinandergerannt.
»Hoppla!«, rief Mr George aus.
»Mr George.« Der Junge hatte dunkle, lockige Haare, die ihm fast bis auf die Schultern reichten, und grüne Augen, so leuchtend, dass ich dachte, er müsse Kontaktlinsen tragen. Obwohl ich weder seine Haare noch seine Augen vorher gesehen hatte, erkannte ich ihn sofort wieder. Auch den Klang seiner Stimme hätte ich überall wiedererkannt. Es war der Mann, den ich bei meiner letzten Zeitreise gesehen hatte.
Genauer gesagt der Junge, den meine Doppelgängerin geküsst hatte, während ich hinter dem Vorhang meinen Augen nicht getraut hatte.
Ich konnte nichts anderes tun, als ihn entgeistert anzustarren. Von vorne und ohne Perücke sah er noch tausendmal besser aus. Ich vergaß ganz, dass Leslie und ich Jungs mit langen Haaren normalerweise nicht mochten.
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