Rubinrotes Herz, eisblaue See
dem Grauen zu entgehen. Als ich die Augen öffnete und mein Atem sich allmählich beruhigte, sagte sie: »Ich hab das auch durchgemacht.«
»War es genauso schrecklich?«, fragte ich und vergaß vor lauter Angst, dass ich sie eigentlich hasste. »Oh ja, widerliches, grauenvolles Zeug.«
»Wie hast du das durchgestanden?«
»Ich versuchte, wach zu bleiben. Aber das klappte natürlich nicht, und dann ging’s direkt ab in die Hölle. Metall, das gegen Bäume kracht. Blut in meinen Augen. Jimmys toter Körper, der mich in meinen Sitz drückt. Alle wütend auf mich, weil sie gestorben sind und ich nicht.«
Sie strich mir das Haar aus der Stirn. »Die Träume hören irgendwann wieder auf«, sagte sie. »Du bist stark. Einer der zähesten Menschen, die mir je begegnet sind. Genauso zäh wie ich.«
Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel, aber sie fuhr fort: »Und ich will dir was sagen, Florine: Ich habe daraus auch etwas gelernt. Es hat mir beigebracht, mir das zu nehmen, was ich vom Leben haben will. Das Leben ist zu kurz, um das nicht zu tun.«
»Du hast dir Daddy genommen.«
»Das habe ich aber nie versucht, als Carlie noch hier war, oder? Das hätte ich auch nie getan, wenn sie nicht verschwunden wäre. Ich habe gesehen, wie sehr dein Vater unter ihrem Verschwinden gelitten hat, Florine. Ich konnte ihn damit nicht allein lassen. Dazu habe ich ihn zu sehr geliebt.«
»Was, wenn sie zurückgekommen wäre?«, fragte ich.
Stella stand auf. »Dann wäre ich zu dem zurückgekehrt, was vorher war. Vielleicht wäre ich wieder weggezogen. Meinst du, ich weiß nicht, dass er sie immer noch liebt? Aber es ist mir egal.«
Als sie das Zimmer verlassen wollte, sagte ich: »Tut mir leid, das mit deinem Baby.«
Sie drehte sich um und sah mich an. »Was meinst du?«
»Dein Baby. Grand hat mir gesagt, dass du vor einer Weile eine Fehlgeburt hattest.«
Stellas Gesicht wurde ganz bleich und zittrig. »Oh«, sagte sie. »Das Baby. Ja. Das Baby.«
Als sie hinausging, färbte sich ihr Kielwasser schwarz, dann mischten sich Grau- und Weißtöne darunter.
Anfang Mai schnitten sie den Gips von meinem Arm und gaben mir eine Schlinge. Ich dachte, sie würden nun auch mein Bein befreien, doch die Ärzte sagten: »Noch einen Monat. Hab Geduld.« Immerhin schraubten sie eine Schiene unter den Gips, sodass ich damit auftreten konnte. Nach dem Abstecher ins Krankenhaus lag ich wieder in meinem Bett, zappelig und unglücklich.
Die Albträume hörten nicht auf. Eines Nachts, nach einem besonders üblen, in dem Andy ohne Kopf auf mich zugewankt war, wachte ich auf und dachte: »Wenn ich hier rauskomme, hört das auf.« Wenn ich wieder in Grands Haus wäre, würden die Träume verschwinden, und mein Bein würde heilen. Aber ich wusste, dass Daddy und Stella mich nie im Leben gehen lassen würden. Also strickte ich heimlich an einem Fluchtplan. Ich übte, im Haus mit einer Krücke umherzugehen, da mein rechter Arm noch zu schwach und empfindlich war, um mich darauf zu stützen, und vorsichtig mit meinem Gips aufzutreten.
Eines regnerischen Freitags, ungefähr eine Woche vor meinem Geburtstag, als Daddy nach Long Reach gefahren und Stella in den Laden gegangen war, stand ich auf, klemmte mir die Krücke unter den Arm und humpelte zur Garderobe neben der Küchentür. Ich zog meinen Regenmantel an, steckte den Ersatzschlüssel, den Daddy von Grands Haus hatte, in die Tasche, setzte mich auf einen Küchenstuhl und zog mithilfe der Krücke Daddys linken Stiefel zu mir. Ich ruhte mich einen Moment aus und ging voller Vorfreude im Geist den nächsten Schritt durch.
Es war nicht weit von Daddys zu Grands Haus. Ich konnte im Handumdrehen rüberhumpeln und -hüpfen. Dann würde ich Grands Haustür aufschließen und hineingehen. Grands Radio stand oben, und das Bad war gleich gegenüber dem Schlafzimmer. Ich würde die Treppe auf dem Hintern rauf- und runterrutschen und mich nur zum Essen nach unten begeben. Es war die perfekte Lösung. Wenn ich nach Hause ging, hätten Daddy und Stella endlich wieder ihre Ruhe, ich würde frei sein, und die Albträume würden in meinem alten Kinderzimmer bleiben.
Ich schlüpfte mit meinem gesunden Bein in den Stiefel, öffnete die Tür, hüpfte die vier Stufen hinunter und humpelte die Einfahrt entlang. Sanfter Mairegen fiel auf den Regenmantel und auf mein Gesicht. Die Gerüche, das Zwitschern der Vögel und die Tropfen auf meiner Haut gaben mir zum ersten Mal seit Monaten wieder das Gefühl, lebendig zu
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