Rubinsteins Versteigerung
Aber ich bin nicht hergekommen, um die Details meiner Abiturvorbereitungen mit dir zu besprechen, sondern weil ich einen ganz bestimmten Wunsch habe. Ab morgen will ich mich tatsächlich gründlich vorbereiten. Aber vorher brauche ich unbedingt einen Tag absoluter Ruhe.« Esel wäre mir spätestens in diesem Moment unweigerlich ins Wort gefallen: »Warum erst bis morgen warten?« Die Bedeutung von »Ruhe« hat sie nie begriffen. »Ich möchte daher einen Tag nach Ichenhausen fahren und dich um das Auto bitten.«
Augenblicklich kommt Leben in sein Gesicht. Das Lid hebt sich, die Mundwinkel wölben sich nach oben. Auch seine Stimme hat wieder an Kraft gewonnen. »Gut, sicher.«
Jetzt liebe ich ihn! Weil wieder Lebensmut in den alten Geier zurückgekehrt ist – und er mir obendrein das Auto gibt.
»Hast du auch genug Geld bei dir?«
»Eigentlich nicht.«
»Warte!« Er zieht seine Geldbörse aus der Hosentasche. »Sind 50 Mark genug?«
»Sicher.«
»Gut. Dann viel Spaß. Das Auto steht auf dem Firmenparkplatz. Hier sind die Schlüssel. Ja, und fahre vorher bei Mutter vorbei und sage ihr Bescheid.«
Genau das werde ich nicht tun. »Mal sehen. Tausend Dank, Fred.« Ich küsse ihn auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen um das Auto, ich bringe es dir morgen Mittag unversehrt ins Geschäft. Bleib mir gesund.«
»Ja.« In seinen soeben noch heiteren Gesichtsausdruck mischt sich Melancholie. Wie viel würde er darum geben, in das verlorene Paradies seiner Kindheit mitfahren zu können, von dem sich sein Gemüt nie lösen konnte. Stattdessen darf der Bursche täglich zehn Stunden im Lagerraum von ›Silberfaden & Ehrlichmann‹ rumlungern und Stoffballen schleppen. Und weil sein Sohn heute den verheißenen Ort seiner Wünsche besucht, muss er auch noch zu Fuß nach Hause latschen oder sich in die Tram quetschen.
Sobald ich aus dem künstlichen Licht des Lagerraums an die kribbelnde Föhnluft trete, ist alle Traurigkeit von mir gewichen. Während ich den Käfer in Richtung Autobahn München – Stuttgart lenke, erfasst mich Euphorie. Zu der Erleichterung, den Problemen in München entflohen zu sein, kommt die jahrtausendealte Hochstimmung, die jeden Juden erfasst, sobald er Gelegenheit findet, freiwillig zu reisen. Etwa zwanzig Kilometer westlich Augsburgs beginnt die typisch bayerisch-schwäbische Landschaft. Der Boden ist eher gewellt als hügelig, die dichten Wälder werden häufig von weiten Wiesen und Feldern unterbrochen. Wie konnte sich in dieser sanften Landschaft eine solche Tragödie ereignen? Warum leben die Menschen hier, fernab der Großstadthektik, nicht in der gleichen Harmonie miteinander wie die Natur rundum?
Fred behauptet, in Ichenhausen habe es keinen Antisemitismus gegeben. Wieso haben die Typen dann 1933 mit Mehrheit die Nazis gewählt? Weshalb die Synagoge angezündet und keinen einzigen Juden versteckt? Wenn Fred sich mit den Eingeborenen hier unterhält, wird sofort schlechtes Gewissen spürbar. Natürlich, jeder von ihnenhat, soviel und sooft er nur konnte, Juden geholfen – ebenso wie im übrigen Deutschland. Wie viele Millionen Juden mögen im Vorkriegsdeutschland gelebt haben, dass jeder erwachsene Deutsche Gelegenheit fand, mindestens einem Juden zu helfen und ihn zu retten? Wo sind die fast 20 Millionen Deutsche geblieben, die freiwillig den Adolf gewählt haben? Wo die Judenmörder?
Nur 10 Kilometer von Ichenhausen, der größten jüdischen Landgemeinde Bayerns, wuchs in Günzburg – gleichzeitig mit Fred – Josef Mengele auf, der als Lagerarzt von Auschwitz Hunderttausende von Juden in die Gaskammern schickte.
An der Ausfahrt Günzburg verlasse ich die Autobahn und nehme die Straße Richtung Krumbach. Während ich den Wagen durch die engen Ortsdurchfahrten von Klein- und Großkötz manövriere, ergreift mich eine seltsame Unruhe. In Ichenhausen verstärkt sich das nervöse Kribbeln. Durch eine enge Linkskurve steuere ich die Karre in Richtung Ortsmitte. Rechter Hand, gegenüber der Dorfkirche, stehen Hotel und Gastwirtschaft »Zum Gaul«. Soll ich wirklich bei diesem fetten Schwein absteigen? Ist doch egal, bei wem von diesen Kerlen man sein Geld lässt. Und Fred meint, die Zimmer im »Gaul« seien die besten im Ort.
Ich stelle den Wagen ab, steige aus. Durch zwei breite Flügeltüren gelange ich in den Schankraum. Ein Duftgemisch aus abgestandenem Bier, Fett und Holzmöbeln schlägt mir entgegen. Am ersten Tisch, unmittelbar vor der Theke, thront der alte Pabst. Seine
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