Rubinsteins Versteigerung
Körperfülle erstaunt mich stets aufs Neue. Obgleich ich es vermeiden will, werfe ich einen raschen Blick auf seinen Rumpf. Wieum ein Ei spannt sich der Gürtel um den prallen Bauch, seine Oberarme hängen wie sich rasch verjüngende Keulen an den relativ schmalen Schultern. Die gepflegten Hände sind zart, die kurzen Finger sorgsam manikürt. Ich trete an den schweren Eichentisch. »Grüß Gott, Herr Pabst«, sage ich leise. Unwillkürlich wendet er sein schweres Haupt. Der kahle, aufgeschwemmte Kopf erinnert mich an einen quer liegenden Rugbyball. Seine dunklen Knopfaugen mustern mich aufmerksam. Mit Daumen und Zeigefinger zieht er die obligate schwere Brasilzigarre aus den wulstigen, farblosen Lippen. Sofort setzt seine heiser-brüllende Löwenstimme ein: »Da schau her, der Jung-Rubinstein! Wo ist denn der Friedrich?«
»Heute bin ich allein.«
»Willst wohl auch als Reisender anfangen wie deine Vorväter?« Sein Publikum ist augenblicklich erheitert. Glucksendes Lachen und Kichern wird am Tisch hörbar. Erst jetzt registriere ich seine Zechgenossen. Es sind die gleichen Gesichter, die ich bereits früher hier und anderswo in Ichenhausen wahrgenommen habe, ohne dass ich mir eines davon merken wollte oder konnte. Bleiche Antlitze mit meist geröteten Wangen und Nasenenden, dazu in der Regel wasserblaue Augen. Diese alemannischen Visagen wirken auf mich so gleichbleibend und ununterscheidbar wie die der Kühe auf den Weiden rings um den Ort.
Ich werde mich jetzt nicht mit diesen Schweinen streiten. Wozu auch und für wen? Ichenhausen ist seit 1942 judenrein. »Haben Sie ein Zimmer für mich?«
»Für einen Rubinstein immer.«
Er wendet seinen Kopf. Das verhaltene Grollen seinerStimme steigert sich. »Kreszenz, richte sofort ein ordentliches Zimmer für Herrn Rubinstein junior her!« Er hustet und spricht daraufhin mit verminderter Lautstärke zu mir: »In ein paar Minuten ist das Zimmer bereit. Wollen Sie sich so lange zu uns setzen und ein Bier trinken?«
»Nein. Ich geh noch ein wenig spazieren.«
»Verirren Sie sich net!«
Auf der Hauptstraße ist es jetzt frühsommerlich warm. Aber es fehlt der aromatische Wind des Münchener Föhns. Auch der Himmel ist heller, farbloser als in München. Ich bin weniger als 100 Meter in nördliche Richtung gegangen und stehe vor unserem alten Haus. Was heißt »unser«, mein lieber Rubinstein? Das Gebäude ist seit 1935 arisiert. Ich gehe nach links in eine schmale Gasse und befinde mich im Nu vor dem Spritzenhaus, der ehemaligen Synagoge. Über dem Eingang kann man noch die blassen hebräischen Buchstaben des Schriftzuges erkennen: »Durch dieses Tor werden die Gerechten einziehen.« Eure »Gerechten« sind hier bereits in der »Kristallnacht« eingezogen und haben das Gebäude geschändet und verwüstet. Seither benötigt ihr diesen Eingang nicht mehr. Stattdessen habt ihr in die Frontmauer der Synagoge zwei breite Tore brechen lassen, »um eine rasche Ausfahrt im Einsatzfall zu ermöglichen«. Den Einsatz habt ihr Schweine schon 1942 »durchgeführt«, als eure Gestapo die wenigen hundert Juden zur »Endlösung verbrachte«, deren Phantasie nicht ausreichte, die Perversion eures Denkens und Handelns zu begreifen, oder die zu alt und krank waren, um zu fliehen.
Bist du meschugge geworden, Rubinstein? Statt abzuschalten und ins Blaue zu fahren, unternimmst du eine masochistischePilgerfahrt nach Ichenhausen. Willst du dich so entspannen? Was soll’s? An welchem Fleck in diesem Land hat es vor 1933 Juden gegeben, denen es nicht ebenso ergangen ist wie denen in Ichenhausen? Solange du dich in Deutschland herumtreibst, wirst du diesen Dreck nie loswerden.
Genug! Ich mache auf dem Absatz kehrt. Es kostet mich jetzt mehr Mühe als zuvor, in den »Gaul« zu treten. »Ist mein Zimmer fertig?« Wieder diese hohe Stimme.
»Freilich!« Warum fehlt mir die Kraft, ebenso zu brüllen wie dieser Fettsack? »Kreszenz! Führ den Herrn Rubinstein auf sein Zimmer und trag sein Gepäck rauf!«
»Ich hab kein Gepäck.«
»Dann trag den Herrn Rubinstein ohne Gepäck rauf!«
Erneut dieses idiotische Kichern. Weshalb können die Kerle nicht lachen wie normale Menschen?
Eine leichte Röte überzieht das Gesicht des Mädchens. Sie ist höchstens 18 Jahre alt. Mit kräftigen Schritten geht sie voran. Ihre stämmige Figur steckt in einem weißen Kittel, über dessen Kragenrand ihre goldblond gelockte Mähne fällt. Während wir im düsteren Gang über den abgewetzten Teppichläufer die
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