Rubinsteins Versteigerung
will deshalb, dass du mir versprichst, dass du Mutter nicht alleinlässt und nach Israel gehst.« Seine Wangen sind voller Tränen.
Jetzt verstehe ich, weshalb sie mit ihm allein sein wollte, obgleich man nicht mit ihm sprechen darf. Aber das ist ihr jetzt egal. Nicht genug, dass sie ihn damit in den Infarkt getrieben hat, für dieses Ziel ist sie sogar bereit, ihn ins Grab zu bringen. Ich muss es Fred versprechen, sonst bringt sie ihn damit um! Ich ergreife wieder seine Hand: »Fred, du hast mein Wort. Du musst dir keine Sorgen mehr darüber machen. Ich bleibe bei dir und Esel.« Er will antworten, kann es aber nicht, er schämt sich seiner Tränen. Ich auch.
Ich stehe auf, gehe zur Tür, öffne sie. Esel kauert auf der weißlackierten Holzbank, sie sieht darauf noch winziger aus, als sie ohnehin ist. »Esel, ich habe Fred versprochen,dass ich nicht nach Israel gehe. Ich werde es halten. Aber nur, wenn du mir schwörst, dass du mit ihm kein Wort mehr darüber reden wirst, sonst stirbt er wirklich.«
Sie steht auf. Sieht mich an. »Wirst du wirklich hierbleiben?«
»Ja!«
»Warte hier auf mich, ich komme gleich. Der Arzt hat gesagt, man soll nicht zu lange bei ihm bleiben.«
Verdammte Scheiße! Was sie nicht mit Gewalt fertiggebracht hat, gelingt ihr jetzt durch meine Angst und mein schlechtes Gewissen. Aber der Alte darf nicht sterben, unter gar keinen Umständen. Und wenn er erst wieder gesund ist, sehen wir weiter.
ANGEQUATSCHT
Alles hat sich gegen mich verschworen. Kaum ist die Freundschaft mit Rachel schön geworden, schon verwandelt sie sich in eine Zwangsjacke. Der befreiende Traum Israel ist vorläufig ausgeträumt. Fred wird wohl nicht abkratzen, aber mehrere Wochen im Krankenhaus und danach in Sanatorien verbringen müssen. Der Arzt sagt, dass er wahrscheinlich nicht wieder arbeiten darf, jedenfalls nicht in dem Ausmaß wie bisher. Und mit dem Abitur ist es auch Mist. In den letzten Tagen war ich krank, dadurch fehlt mir in Mathe einiges und in Physik sehr viel. Aber ich darf Fred nicht enttäuschen, sonst bekommt er womöglich noch einen Infarkt. Scheiße! Keine Frau, kein Israel, kein Abitur.
Beruhigt Euch, Reb Jid! Noch ist nichts verloren. Morgen ist erst mal Deutschabi. Da musst du dich nicht vorbereiten, lediglich fünf Stunden lang ein human-demokratisches Lied singen. Scheiß drauf! Danach hast du noch fast zwei Wochen Zeit, dich auf Mathe und Physik vorzubereiten. Genieße erst mal das schöne Wetter hier im Englischen Garten und lass dich nicht verrückt machen.
Die Tante nebenan hat keine schlechte Figur – aber ein nichtssagendes Gesicht. Denk nicht an Weiber, Ruhe! Erhol dich. Zu Befehl, Esel. Das Mädel im blauen Minikleid, das jetzt mit kräftigen Beinen direkt auf mich zustapft, ist allerdings wirklich klasse. Direkt auf mich zu? Sicher! Ohne mich zu kennen, wird sie zu mir kommen und mich anquatschen. »Also, du bist der berühmte Jonathan Rubinstein. Ich habe schon so viel von dir gehört, außerdem siehst du so irre aus, dass ich dich unbedingt kennenlernen muss.« Von wegen, sie geht zu der Frau, die neben mir auf der Wiese liegt. Sie quasseln. »Meine« hat eine angenehme dunkle Stimme und lacht dauernd. Wieder eine deutsche Gretel, große kobaltblaue Augen mit dem naiven Ausdruck einer Puppe. Sie hat irgendetwas Mütterliches, Vertrauenerweckendes an sich. Reb Jid, hört auf zu schwärmen, ruht Euch aus! Eine nette Frau. Eine verdammt nette Frau sogar! Schade, dass ich sie nicht kenne. Dann lern sie eben kennen, sprich sie einfach an! Aber ich habe noch nie eine Frau einfach so angequatscht.
Rubinstein! 21 Jahre alt und hat sich noch nie in seinem Leben getraut, eine Frau anzusprechen. Wird es wohl auch nie. Scheiße! Schieb das bloß nicht wieder auf den alles seligmachenden, alles entschuldigenden Antisemitismus.Es ist nichts als verdammte Schüchternheit. Was kann dir schon passieren, wenn du sie anquatschst? Dass sie nicht reagiert. Im schlimmsten Fall lacht sie dich aus. Na und? Du wirst es überleben. Aber sie sieht nicht aus, als ob sie mich auslachen würde. Oder? Oder, schmoder. Quatsch sie endlich an!
Verdammt, aber wie? Was soll ich sagen? ›Schönes Wetter?‹ Das ist zu blöd. Wie stelle ich es überhaupt an, mit ihr zu quatschen und nicht mit ihrer doofen Freundin? Alles Ausreden!
Los, aufstehen! Ich stemme mich hoch, schlurfe die zehn Meter rüber. Sofort blickt mich das Puppenauge an, auch die Kuh neben ihr wendet sich mir zu. »Entschuldigen Sie,
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