Ruchlos
auch begleiten.«
Andy, der die Weinkarte studierte, griff nach seinem Sektglas und trank einen großen Schluck. Dale fragte nach, wohin.
»Du erinnerst dich an die künstlichen Gelenke? Andreas hat die Firma ausfindig gemacht, und morgen habe ich dort einen Termin für die Zeitung. Du kannst als Fotograf mitkommen.«
»Wunderbar.«
Der Kellner trat mit der großen Schiefertafel, auf der die Gerichte des Tages notiert waren, an unseren Tisch und stellte die Auswahl vor.
»Ich nehme die Artischockensuppe und die Dorade«, sagte Andy. »Und bringen Sie uns eine Flasche von dem sächsischen Weißburgunder.«
Das war bestimmt einer der teuersten Weine auf der Karte. Warum tat er das? Ich wusste, dass Dale da nicht mithalten konnte. Er verdiente kaum mehr als ein freier Journalist, und seit er alle zwei, drei Monate in die Staaten flog, dürfte er noch knapper dran sein als früher. Ich nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass wir die Getränke bezahlten.
Dale wählte den Salat und Gnocchi mit Ziegenkäse. Ich nahm Ravioli und gefüllten Schweinebauch, worüber Dale sich still amüsierte, während bei Andreas offenbar noch immer der Groschen nicht fiel. Im Gegenteil: Er schien die Tatsache, dass ich auch den Wein ablehnte, persönlich zu nehmen. Ich konnte nicht anders, ich brach in lautes Lachen aus, in das Dale einfiel. Er hob sein Glas und prostete mir ironisch zu.
»Freut mich, dass ihr solch einen Spaß habt.« Nun war Andy richtig eingeschnappt. Er kippte den guten Wein herunter, als wäre es billiger Fusel, goss sich sofort nach.
»Tut mir leid.« Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich erklär’s dir zu Hause, dann kannst du mitlachen.«
So ganz befriedigte ihn das nicht, mit verschlossenem Gesichtsausdruck griff er nach einem Stück Brot.
»Glaubst du, du bist sicher, so allein und verletzt bei euch zu Hause?«, fragte Dale Andreas in ernstem Ton.
»Im Krankenhaus war ich anscheinend auch nicht sicher, oder?«
Dale nickte nachdenklich. »Ihr habt eine Gegensprechanlage. Ihr solltet sie auch benutzen. Und vor allem auf der Straße aufpassen.«
Der Kellner brachte die Vorspeisen, sodass wir aus den düsteren Gedanken gerissen wurden. Andy mühte sich, seine Suppe mit der linken Hand zum Mund zu bringen, ich genoss die handgemachten Teigtaschen. Zwischendurch strich ich ihm über den rechten Arm, der auf seinem Oberschenkel lag.
Ich wollte nicht an dieses Nazipack denken, aber über ein paar Punkte mussten wir noch sprechen.
»Was meinst du, wie sehr ist Ronnie in diesen ›Sturmtrupp‹ involviert?«
Dale schob sich eine Gabel Rucola in den Mund, bevor er antwortete. »Nicht sehr tief. Ich denke, er ist einfach auf der Suche nach Autoritäten, und das bieten diese Nazis ja.«
Andy schnaubte verächtlich.
»Sieh es positiv«, wandte Dale sich an ihn. »Durch deine Aussage sind einige Rädelsführer aus dem Verkehr gezogen, und gerade weil sie so hierarchisch aufgebaut sind, bedeutet das bei solchen Organisationen eine Menge.«
»Hoffentlich.« Andy klang skeptisch, und ich konnte es ihm nachfühlen.
»Okay, Themenwechsel«, forderte ich und berichtete ein weiteres Mal, was vor genau einer Woche passiert war. Mittlerweile hatte ich es so oft beschrieben, dass ich fast das Gefühl hatte, eine Geschichte zu erzählen. Dale hörte aufmerksam zu, fragte immer wieder nach, machte sich auf seinem kleinen Block Notizen. Vor allem interessierte er sich für die Familienkonstellation: warum der kleine Leon dort gewesen war, wie seine Mutter reagiert hatte, ob und, wenn ja, welche Fotos von Verwandten bei dem alten Herrn hingen.
Bei der letzten Frage musste ich passen. »Es war einfach zu viel passiert an diesem Abend, als dass ich darauf geachtet hätte.«
Dale nickte. »Manchmal ist so was ja auffällig oder aber das Unterbewusstsein registriert etwas.«
In der Zwischenzeit waren die Hauptgänge gebracht worden, und wir schwiegen eine Zeit lang.
»Die Hyazinthus-Orthopädie macht ganz klar auf Sanatorium«, schnitt Andreas das andere Thema an.
»Du meinst die Schonkost«, zog ich ihn auf, froh, dass er sich am Gespräch beteiligte.
»Das genaue Gegenteil.« Er schenkte Dale und sich Wein nach. »Ich war gestern Vormittag da in der Sprechstunde.« Dort war er also gewesen, als ich ihn zuerst ein Stockwerk tiefer, dann bei uns zu Hause gesucht hatte. »Frau Dr. Valerie Ehrhardt, die Chefärztin, hat keine Sekunde gezweifelt, dass wir eine passende Lösung für meine Großmutter finden.
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