Ruchlos
hoch.
Gigantisch ragte das Kronentor auf, wirkte gespenstisch in dem Herbsthimmel, an dem der satte, volle Mond hinter Wolken hervorlugte und mit seinem Licht die Szenerie zusätzlich beleuchtete. Plötzlich hörte ich von hinten ein Keuchen. Ich rannte, so schnell ich konnte. Unter der großen Kuppel war eine kreisrunde Auslassung im Boden, der Blick über das Geländer offenbarte das prachtvolle Innere des Eingangstores. Da unten käme ich heraus. Aber es führte kein Weg dort hin, gab keine Möglichkeit, den Abstand zu überwinden, nichts, woran ich hätte herabklettern können.
Weiter. Rechts sah man jetzt auf den großen, freien Postplatz, geradeaus war schon das nächste Eckgebäude. Wieder ein Keuchen von hinten, fast erstickt diesmal. Ein modernes, quadratisches Glasdach wölbte sich hinter der Ecke aus dem Boden heraus. Ich lief auf das nächste Museum zu, die Porzellansammlung. Hier musste es nach unten gehen.
Nein, hier ging gar nichts. Ich stand wieder vor einer geschlossenen Eingangstür, und nun blieb keinerlei Weg mehr als der zurück. Der Pavillon des Museums nahm die gesamte Breite der Anlage ein, links und rechts ging es steil in die Tiefe – links in den Zwinger, rechts auf die Sophienstraße. Verdammt! Zitternd vor Angst, Wut und Erschöpfung ließ ich mich an einer Sandsteinsäule hinabsinken auf den kalten Boden, starrte in die Richtung, aus der ich gekommen war. Zumindest im Moment schien alles menschenleer. Was sollte ich tun, wenn sie auf mich zukamen? Die steinernen Figuren auf der Balustrade schienen mich zu verhöhnen.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort gesessen hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass meine Zähne vor Kälte klapperten, obwohl ich den Trenchcoat über mich gebreitet hatte, das Futter nach außen, als wenn mir das noch etwas helfen könnte. Mit unendlich steifen Gliedern stand ich auf, blickte hinunter auf die Straße. Ein Auto raste gerade hindurch, der Lärm hallte vielfach verstärkt nach. Keine Chance. Selbst wenn dort unten Passanten auftauchten, könnte ich sie kaum auf mich aufmerksam machen. Zumindest würde mich jeder, der sich hier oben befand, deutlich besser hören und wäre schneller bei mir. Es gab keinen anderen Weg, als vorsichtig zurückzuschleichen, in der Hoffnung, dass die Verfolger aufgegeben hatten.
Ich lief bis zu dem gläsernen Quader zurück, bückte mich dort und hielt in seinem Schutz auf das Eckgebäude zu, blieb wie angewurzelt stehen. Da war etwas, direkt vor mir an der Wand. Eine Sekunde später vergaß ich jede Vorsicht, stürzte los.
»Andy!«
Er lehnte an einer Säule, die Beine zitternd, der Oberkörper unnatürlich gestreckt und versuchte, etwas zu sagen, brach ab, deutete mit einer schwachen Bewegung der offenen linken Hand auf seinen Mund, seine Nase, nach unten auf die Rippen. Offenbar bekam er keine Luft. Das also war das Keuchen gewesen.
Ohne dass ich es zuerst auch nur merkte, liefen mir Tränen über die Wangen. Ich tastete in Andreas’ Jackentaschen nach seinem Handy, seufzte erleichtert auf, als ich es fand, und rief den Rettungsdienst an. Dann streichelte ich sein Gesicht und beschwor ihn, Ruhe zu bewahren, blieb ganz dicht bei ihm stehen und lauschte auf die gequälten, flachen und unregelmäßigen Atemzüge. Wäre einer der Schläger erschienen, ich wusste nicht, was ich getan hätte. Vielleicht hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihn über die Balustrade geworfen oder aber ich wäre komplett zusammengebrochen.
Endlich hörte ich die Sirene des Krankenwagens.
12 . KAPITEL
Sie bringen uns ins Hyazinthus-Krankenhaus, dachte ich, während wir auf der Ostra-Allee dahinrasten, und war unfähig, mir darüber klarzuwerden, ob ich das verhindern sollte. Andy lag auf der Trage des Rettungswagens, den Oberkörper leicht aufgerichtet, eine Beatmungsmaske vor dem Gesicht. Ich saß neben ihm und hielt seine Hand, strich immer wieder darüber und versuchte so, auch mich selbst zu beruhigen. Der Notarzt hatte, nachdem ich von den drei gebrochenen Rippen berichtet hatte, den Kopf geschüttelt und Andreas eine Spritze gegeben. Ich tippte auf ein Schmerzmittel. Mir war im Auto eine Decke gereicht worden, da ich noch immer zitterte.
Was war passiert? Hatten die Schläger Andy angefallen und waren danach abgehauen? Auf dem Weg zurück war niemand mehr zu sehen gewesen. Wieso war er überhaupt dorthin gekommen? Ich suchte seinen Blick über dem weißen Trichter, aber er hielt die Augen geschlossen, schien weggedämmert zu sein. Ich
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