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Rudernde Hunde

Rudernde Hunde

Titel: Rudernde Hunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Heidenreich
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vollauf. Beklommen schlichen wir freiwillig früh in die Betten, denn an Ausschlafen würde nicht zu denken sein. Einen Wecker brauchten wir nicht. Mit dem Hahn des Nachbarn krähte Vater bei Sonnenaufgang um die Wette.
    »Kinder, was für ein Wetter!« schrie er durchs Haus.
    Er polterte, pfiff fröhlich und ergoß seine ganze Guten-Morgen-Laune in unsere Schuhschachtel von Fünfziger-Jahre-Haus. In unserem Bad von der Größe eines Vorlegeteppichs hatte er bereits drei Zigaretten geraucht und seine von uns so gehaßte, täglich exakt zur selben Zeit verrichtete morgendliche Notdurft hinterlassen, deren Duft sich erst nach Stunden verflüchtigt hatte.
    Wir zogen es vor, uns im Garten mittels Gartenschlauch zu waschen, während unsere Mutter blaß und stumm duldend das Frühstück bereitete. Mir war schon damals klar, daß sein bis zum ersten Schluck Kaffee nicht verstummendes, so fröhliches wie falsches Pfeifen von gängigen Schlagern wie Marina oder Anneliese, ach, Anneliese für meine Mutter, die als höhere Tochter musisch gebildet aufgewachsen war, Peitschenhiebe waren. Für uns Kinder war es nur wieder ein verlorener, der guten Laune des Vaters zu opfernder, schulfreier Tag.
    Kaum hatten wir unseren Milchkaffee getrunken, gab Vater bereits ungeduldig die Order aus, man könne den 9 Uhr 14
    bekommen, wenn nun nicht noch weiter unnötig herumgetrödelt würde.
    Schon gingen wir durchs Dorf. Vom Oberdorf zum Unterdorf, an allen Höfen vorbei, wo Bauernkinder spöttisch und schadenfreudig winkten, hinunter ins Moos, wo meistens noch ein Frühnebel hing, quer durch die Wiesen, und dann auf einer geschotterten Straße zum Bahnhof. Vier Kilometer in strammem Marsch.
    Er ging voran, der Geißmilli-Mann mit seiner Frau und seinen Kindern, kräftig einherschreitend, der Einmeterachtundneunzig-Mann, dahinter unsere Mutter, verbissen mit ihm Schritt haltend, und wir, wie rennende Orgelpfeifen, mein Bruder, ich und am Ende meine Schwester.
    Die Bezeichnung Geißmilli-Mann, die Dorfkinder meinem Vater ungeniert hinterherriefen, hatte er einer seiner Marotten zu verdanken. Er schwor im Gegensatz zu allen anderen in diesem bayerischen Dorf, die Kuhmilch tranken, auf Ziegen-, also Geißenmilch. Über die Gründe dafür konnte er lange Vorträge halten, und er hielt sie auch. Ich habe sie oft gehört, aber nie begriffen. Peinlich war es für mich immer dann, wenn Vaters Ausführungen über die Vorzüge der Ziegenmilch mit der Feststellung endeten:
    »Ziegenmilch ist auch die beste geistige Nahrung, das seht ihr daran, daß meine Kinder auf die höhere Schule gehen und eure nicht.«
    Ich trank damals bei den Bauern heimlich Kuhmilch und träumte davon, Schreiner zu werden. Und ich sah den Pfarrer und den Volksschullehrer als Beweis gegen die Theorie meines Vaters an.
    Beide stammten von Bauernhöfen, waren mit Kuhmilch aufgewachsen und hatten studiert, während es mein Vater trotz angeblich lebenslanger Ernährung mit Ziegenmilch eigentlich zu nichts Vernünftigem gebracht hatte. Er hatte weder studiert noch ein Handwerk gelernt. Unsere lebenskluge Nachbarin, die immer auf alles eine passende Antwort hatte, sagte einmal: »Euer Vater hat Mundwerk gelernt.«
    Uns und unsere Mutter zogen die Dörfler übrigens mit den Marotten unseres Vaters nie auf. Sie hatten ein genaues Gespür dafür, wie wir unter diesem Vater litten und daß wir nichts für ihn konnten.
    Wir gingen nun also den Weg zum Bahnhof zu Fuß, den wir Fahrschülerkinder täglich bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad fuhren. Da unser Vater nicht radfahren konnte, weil er seinen Gleichgewichtssinn - wie andere Beine, Arme oder den Verstand -
    im Krieg verloren hatte, marschierten wir also, anders konnte man es nicht nennen.
    Natürlich bekamen wir den Zug um 9 Uhr 14 immer. Wenn er 10
    Minuten Verspätung hatte, was gelegentlich passierte, dann verhöhnte mein Vater die Bahn, die sich solche Unregelmäßigkeiten nicht geleistet hätte, wäre er dort verantwortlich gewesen.
    Während der Fahrt zeigte uns der Vater, was wir doch täglich sahen, und er erklärte, was wir längst wußten. Er begutachtete und beurteilte die Felder, er nannte die Namen der Orte, deren Kirchtürme in der Ferne zu sehen waren, und er pries den Tag, das Wetter und das, was er alles für die Familie tat, weswegen grundsätzlich Dankbarkeit angebracht sei. Wir waren müde, hörten nicht zu und ergaben uns in das Schicksal, das Vaters gute Laune uns bescherte. Diese Laune hatte etwas mit harmlosen

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