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Rückgrad

Rückgrad

Titel: Rückgrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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seit Ewigkeiten nicht mehr geschenkt hatte. Anscheinend existierte ich auf einmal wieder, hatte sie die Größe meiner Seele entdeckt und freute sich jetzt also, daß wir die Reise gemeinsam unternahmen. Ich mäßigte sie mit einem teilnahmslosen Blick, dann forderte ich sie auf, nachzusehen, ob sie nichts vergessen hatte, und bestellte ein Taxi.
    Ich hatte mich am Nachmittag um die Fahrkarten gekümmert. Ich wußte nicht, ob sie sich eingebildet hatte, wir würden die Nacht auf einer Sitzbank verbringen und den mangelnden Komfort mit einem bestimmten Personenkreis teilen – persönlich war ich über das Alter hinaus –, als sie jedenfalls sah, daß ich ein Abteil nur für uns beide reserviert hatte, zögerte sie ungefähr eine Viertelsekunde, ehe sie eintrat, und als sie sich dann nach mir umdrehte, verbarg sie die konfusen Empfindungen, die auf sie einstürmten, hinter einem schwachen Lächeln. Von mir aus mochte sie ruhig denken, was sie wollte, meinetwegen konnte sie auf dem Gang übernachten, wenn ihr das lieber war, ich hatte niemand gezwungen. Nun ja, wie dem auch sei, ich reichte dem Typ, der uns die Tür geöffnet hatte, die Fahrkarten, und sie sagte:
    - Ich bin ewig lang nicht mehr mit dem Zug gefahren, weißt du. Ich hatte diese eigentümliche Atmosphäre vergessen …
    Ihrer Stimme war noch eine gewisse Unruhe anzuhören, aber nichts Boshaftes, man hätte meinen können, sie rede und denke dabei an etwas anderes. Ich wußte ganz genau, was sie sich wohl vorstellte – was überdies jede andere an ihrer Stelle getan hätte –, trotzdem, es handelte sich dabei keineswegs um ein abgekartetes Spiel meinerseits. Ob sie mir nun glaubte oder nicht, ich hatte sie nicht belogen: sämtliche Flüge bis zum nächsten Tag waren ausgebucht. Und die Nacht in einem Mief von Körpergerüchen zu verbringen und ständig schnarcht irgendein Idiot auf seiner Liege zweiter Klasse, naja, o Gott …
    Die äußeren Umstände sprachen gegen mich, aber das hatte nicht die geringste Bedeutung. Ich spekulierte auf nichts mehr. Ich war nicht besonders scharf darauf, die Nacht mit ihr zu verbringen, wenn sie es genau wissen wollte.
    Wir kauften dem Typ auf dem Bahnsteig ein paar Zeitungen und Illustrierte sowie Kaugummidragees für Sarah ab. Die Nacht war noch nicht schwarz, sondern leicht rotorange und wie von einem höllischen Feuer angestrahlt. In der Luft hing ein Geruch von Maschine, von poliertem Stahl.
    Als sich der Zug in Bewegung setzte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus und entspannte sich tatsächlich. Ich spürte das sehr deutlich, ich war ganz mit der Speisekarte beschäftigt, und ich hatte den Eindruck, daß sie meine Unachtsamkeit dazu ausgenutzt hatte, irgend etwas mit der Atmosphäre anzustellen oder einfach ein Opiumkügelchen zu verschlingen. Ich blickte flüchtig zu ihr hinüber. Ihre Arme ruhten auf den Lehnen des Sessels, ihr Nacken auf der Rückenlehne. Ihr Gesicht war halb zum Fenster gewandt, und sie wirkte abwesend, besänftigt und nicht weit davon entfernt, ein Lächeln aufzusetzen, wenn ich mich nicht täuschte. Ich hätte gern gewußt, woran sie dachte, aus reiner Neugier. Ich nahm meine Lektüre wieder auf, während der Zug an Geschwindigkeit gewann und in Richtung Südwesten abbog. Durch die leicht geöffneten Fenster herrschte eine recht angenehme Temperatur.
    Ich fragte sie, ob sie lieber hier oder im Speisewa …
    - O nein, ich kann mich nicht mehr bewegen, unterbrach sie mich.
    Ich veranlaßte das Notwendige und bestellte einstweilen etwas zu trinken. Mittlerweile nahmen die Lichter, die in der Dunkelheit vorbeisausten, ihre Aufmerksamkeit gefangen. Oder auch die Schatten der ausfransenden Vorstadt. Oder das plötzliche, der Garbe einer Brandbombe ähnliche Aufleuchten eines Bahnsteigs. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen und trank ihr Glas in kleinen Schlucken, sie hatte es sich bequem gemacht, und ihr Gesicht war ruhig und ihre Lippen feucht, und ihr Parfüm wehte langsam zu mir herüber. Sie hatte die Beine angezogen, ihre Strümpfe schimmerten über ihren Knien, ihr Rock spannte sich wie eine Trommel und dazu ihre Bluse und die feine Spitze, die ihr Schlüsselbein kreuzte und die Perle, die an ihrem Ohr hing, und die Strähnen, die ihr entwischt waren, als sie mit einer einzigen Handbewegung ihre Haare hochgesteckt – puh, du weißt gar nicht, wie warm mir darunter ist – und einige Nadeln sowie eine durchscheinende Spange in Form eines Krokodils, die Gladys gehörte, angebracht hatte. Ich

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