Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückgrad

Rückgrad

Titel: Rückgrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
Verstimmung, die sich plötzlich in ihren Zügen abmalte, und ich dachte:
    - Jessesmaria …! Ich drehte mich um. Ich glaubte mich zu erinnern, daß sie die Farbe meiner Augen mochte, sie würde sich gewiß freuen.
    - Weißt du, Sarah … (oh, und meine Stimme war zuckersüß, zart wie ein Frühstück im Freien), weißt du, Sarah, ich sitze nicht zufällig in diesem Zug. Niemand anders als du hat mich darum gebeten, erinnerst du dich … Weil du Probleme hattest. Weil dein Freund nicht umhin konnte, nach dem Rechten zu sehen, und weil er sich nicht mit deinem Sohn versteht. Zugfahrten sind mir ein Greuel. Und nur seinetwegen verbringe ich die Nacht in diesem fürchterlichen Radau. Ich hab dieses Tete-ä-tete nicht gesucht. Eigentlich sollte ich jetzt zu Hause sein und auf einen Anruf warten. Der Kerl kotzt mich an, falls du das immer noch nicht begriffen hast. Was meinst du, wie mich das kratzt, ob er Verständnis hat oder nicht, habe ich ihn um etwas gebeten …?
    Ich bemerkte einmal mehr, daß sie nicht hinhörte, wenn ich kundtat, was ich von Dolbello hielt. Sie interessierte nur eins: daß ich mir das Versprechen eines geziemenden Schweigens abringen ließ, daß er auf gar keinen Fall erfuhr, daß sie und ich …. im gleichen Abteil … allein … die ganze Nacht … die Vibrationen … das enge Beisammensein … die Liegeplätze … die sommerliche Schwüle … das Rütteln, die reifen Ähren, die Tunnel und so weiter und so fort … Wahrhaftig, ich konnte es mir lebhaft vorstellen. Persönlich hatte ich nichts dagegen, wenn er ein wenig ins Schwitzen kam. Er war an allem schuld. Aber sie wirkte so aufgewühlt, als ich mich weigerte, ihr mein Wort zu geben, daß ich schließlich nachgab. Zum Teufel, ihre Dankesworte widerten mich an, lieber schlug ich die Augen nieder.
    Sie trank ihr Glas aus. Jetzt strahlte sie, sie wirkte gelöst, nachdem sie einen Sekunden zuvor noch zu Tränen gerührt hatte. Ich strich mir langsam über den rechten Arm, eben jenen Arm, den ich mir einst hätte abhacken lassen, hätte jemand behauptet, Sarah könne einem Mann nachgeben. Nein, kein Zweifel, ich verstand einfach nichts von Frauen. Sarah, die bei der Vorstellung zitterte, ein Typ könne ihr eine Szene machen, wer wollte noch bestreiten, daß ich in eine Welt geraten war, die sich verkehrt herum drehte …?!
    - Guck sie dir an, sagte ich mir, du wirst bestimmt noch mehr Überraschungen erleben. Alles, was du weißt, ist nur Illusion, Torheit, Sand, den du dir in die Augen streust.
    Sie betrachtete mich mit gerührter Miene, mit einer Art verträumter Melancholie – wahrscheinlich spielte da auch der Alkohol eine Rolle, obwohl ich für die Folge nichts mehr beschwören möchte – , die sie durch eine lässige Haltung noch betonte: den Kopf leicht geneigt und die Hüften seitlich verschoben, die Beine wieder angewinkelt. Mehr hatte es früher nicht bedurft, um sogleich einen schweren Schwall lüsterner Hitze in mir aufsteigen zu lassen. Wenn ich sie bei einem solchen Blick ertappt hatte -wohl wissend, daß sie mich letztlich abweisen würde –, hatte ich für den Rest des Tages genug zu tun, um mich davon zu erholen, es war mitunter schwierig, sich mit einer freundschaftlichen Umarmung zu bescheiden, wenn man höher gesteckte Ziele verfolgte. Nicht nur, daß ich sie bumsen wollte, da war auch noch etwas anderes.
    - Woran denkst du …? fragte sie mich.
    - Was soll ich sagen … Das ist ziemlich persönlich.
    Sie wartete auf die Fortsetzung. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, daß sie allein unterwegs war, daß ich auf halbem Weg stehengeblieben war. Die Macht der Gewohnheit, diese unsere Manie, einander nichts zu verheimlichen …
    Enttäuscht – ich sah noch dieses nicht Faßbare auf ihrem Gesicht, dieses so spürbare Unendliche – spielte sie einen Moment mit dem obersten Knopf ihrer Bluse, dann stand sie auf und verschwand hinter mir. Ich hörte, wie sie die Tür des Waschraums aufzog. Obwohl sie nicht abschloß, verzichtete ich darauf, mich zurückzubeugen und mir die Augen auszugucken, – Augen können auch berühren …! hatte sie mir eingetrichtert –, und schnappte mir eine Illustrierte, ich legte sie auf den Tisch und peilte die erste Seite an. Es war gegen ein Uhr, aber nicht die geringste Kühle drang von draußen herein, und wir dampften gen Süden. Sie sagte, ihr Rock sei zerknautscht. Ich stand auf und drehte das Licht dunkler, setzte mich wieder. Mir war, als ob ich jedesmal, wenn ich eine Erinnerung

Weitere Kostenlose Bücher