Rückgrad
noch ein paar Monate zu tun, bevor ich am Rande des Abgrunds stand. Das war zum Glück weit genug entfernt, um mich daran zu hindern, gleich wie Espenlaub zu zittern. Ich kippte ein Glas und nahm mir fest vor, wachsam zu bleiben und mir all diese Fragen im Schütze meiner weiterhin schlaflosen Nächte durch den Kopf gehen zu lassen.
Ich beschloß, Hermann nichts davon zu erzählen. Ich wußte ohnehin nicht, was ihn, abgesehen von Gladys und seinen Theaterkursen, hätte bekümmern können. Mitunter war es an mir, ihn zu fragen, ob er Geld brauche. So wie ich ihn von Zeit zu Zeit losschicken mußte, damit er sich was kaufte, wenn Sarah mal wieder meinte, ich glaub, er braucht ein Paar Schuhe, du solltest ihm eine Hose kaufen, seine Jacke taugt nur noch für die Mülltonne … Ich geb zu, daß mir diese Dinge zuweilen überhaupt nicht auffielen, ich guckte nicht nach, was sich in seinem Schrank tat, und er half mir seinerseits auch nicht sonderlich. Wenn man ihn hörte, brauchte er nie etwas, oder aber er wußte nicht genau, was eigentlich.
- Ich hab ‘nen Horror vor neuen Klamotten …. sagte er zu mir. Ich fühl mich da drin nicht wohl.
Meine Aufgabe war alles andere als einfach. Ist ein Vater gehalten, regelmäßig den Zustand der Schuhsohlen seines Sohnes zu kontrollieren? Wie lange hatte ich gebraucht, um festzustellen, daß er mit zwei Paar Socken herumlief, hatte er mir nur ein Sterbenswörtchen gesagt …?
Wenn er sich feinmachen wollte, lieh er sich eins meiner Hemden, und damit war die Sache für ihn erledigt. Er brauchte sich bloß noch mit ein wenig Wasser übers Gesicht zu gehen und mit dem Kamm durch die Haare. Das hatte er allerdings, glaube ich, von mir, von seiner Mutter konnte er das nicht haben. Ich hatte eines Abends mit Gladys darüber gesprochen, ich hatte sie ein wenig zur Seite gezerrt und einen Ton angeschlagen, der klipp und klar war.
- Hör mal, du müßtest doch als erste mitbekommen, wenn mit seinen Klamotten etwas nicht stimmt, nicht wahr …? Nun ja, ich weiß nicht, du brauchtest mich bloß unauffällig zu warnen, bevor die Dinge ausarten, du weißt doch, auf ihn kann man sich da nicht verlassen, und ich, ich scharfe es nicht immer, nachzusehen, ob seine Sachen bereits völlig verschlissen sind … Du kennst ihn, ihn kratzt das nicht … Kurz und gut, ich brauche einen Beobachter, der immer in vorderster Front steht.
- Na schön, einverstanden. Wenn du willst. Aber weißt du, mich stört das nicht, ich finde, er sieht ganz gut aus …
- Soso … Das ist nicht das Problem. Versuch ihn mit anderen Augen zu sehen, bitte, tu mir den Gefallen … Ich muß gestehen, daß mir einige Kleinigkeiten vollkommen entgehen.
- Oh … Naja, dann kann das so schlimm auch nicht sein.
- Nein, das habe ich auch nicht behauptet … Ich sprech dich nur darauf an, weil ich das Gefühl hab, Frauen haben für so etwas einen Blick. Das heißt, wer weiß, vielleicht ist dir das ja ganz egal …
- Eh … Jetzt übertreibste aber, sehr nett …
Ich prostete ihr lächelnd zu und kippte meinen Martini-Gin zum Zeichen der Reue. Nichts zu machen, sie ließ den bösen Dan in seiner Ecke stehen und gesellte sich wieder zu den anderen.
6
Im Frühsommer hatte Hermann seinen ersten öffentlichen Auftritt. Als ich ihn über die Bühne schreiten sah, sämtliche Blicke auf ihn gerichtet, spürte ich schlagartig, daß er in ein Alter gekommen war, wo sich das Leben um ihn kümmern würde, ohne mich um meine Meinung zu fragen, und ich hatte Lust, ihm zuzurufen: NIMM DICH IN ACHT, HERMANN, PASS JETZT SCHWER AUF …!
Ich ließ meine Hand auf Elsies Knie zurückfallen. Sie tuschelte mir gerade ins Ohr:
- Sag mal, das macht ihn aber ganz schön alt, wie wird er erst mit zwanzig aussehen …!
Ich antwortete ihr mit leiser Stimme, sie solle sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen, in der Zwischenzeit könne sie sich ja um mich kümmern.
Wir waren allesamt gekommen, um ihn zu sehen. Marc war auch da, doch als es darum ging, Platz zu nehmen, hatte sich Elsie entschlossen, an meine Seite zu kommen. Auch wenn sie es abstritt, war ich doch überzeugt, daß sie sich im Grunde nicht entscheiden konnte. Zuweilen ertappte ich sie dabei, daß sie uns beide mit einer kleinen Sorgenfalte und einem starren Lächeln betrachtete. Das schien alles andere als leicht zu sein.
Ich nahm meine Hand von ihrem Knie, um mich auf Hermann konzentrieren zu können. Er war nicht besonders gut, aber man spürte, er war mit dem Herzen
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