Rueckkehr ins Leben
paar
Minuten hörten meine Freunde auf zu weinen. Wir gingen
weiter, ohne etwas zueinander zu sagen. Wir wussten, dass wir nur kurze Zeit trauern durften, wenn wir selbst am Leben bleiben wollten.
»Ich freue mich auf das Dorf. Ah, ich werde meine Mutter
fest umarmen«, Alhaji lächelte und fuhr dann fort. »Sie me-ckert aber immer, wenn ich sie fest umarme: ›Wenn du mich liebst, dann hör auf, mir die alten Knochen zu zerquetschen, du bringst mich noch mal um.‹ Sie ist lustig.«
Wir kicherten.
»Ich hab das Gefühl, dass wir unsere Familien finden oder wenigstens etwas über sie erfahren.« Kanei streckte die Hände aus, als wollte er die Sonne einfangen. Er sah Alhaji an, der hemmungslos lächelte. »Ich hab gehört, du hast eine schöne Schwester. Ich bin ja immer noch nur dein Freund,
stimmt’s?« Wir alle fingen an zu lachen. Alhaji sprang Kanei auf den Rücken und sie rangen miteinander im Gras. Als sie damit aufhörten, folgten sie uns auf dem Weg und sangen
eins der Lieder von S.E. Rogie: »Nor look me bad eye, nor 102
weigh me lek dat, bo do ya nor point hand pan me. Lady, I beg you …« Wir fielen ein und sangen, als hätten wir die
schönste Zeit unseres Lebens. Doch allmählich kehrte die
Stille zurück und übernahm wieder das Regiment.
Ein Teil des Himmel war vollkommen blau, an dem an-
deren hingen die Wolken still. Der leichte Luftzug ließ einen Ast im Wald knacken. Das Echo klang wie ein Schrei,
ein Schmerzenslaut. Ich war nicht der Einzige, dem das auf-fiel, auch meine Freunde blieben kurz stehen und lauschten aufmerksam. Der Luftzug wurde stärker. Die Blätter der
Bäume rieben aneinander, widerstanden dem Wind. Mehr
Äste knackten im Wald, und das Wehklagen wurde lauter.
Die Bäume sahen aus, als hätten sie Schmerzen. Sie
schwankten in alle Richtungen und schlugen mit den Ästen
aufeinander ein. Die Wolken rollten nun über den blauen
Himmel und es wurde dunkel. Heftiger Regenschauer folg-
te, Blitz und Donner hielten knapp 15 Minuten an. Danach
war der Himmel wieder strahlend blau. Verdutzt lief ich in meinen durchnässten Klamotten durch die Sonne. Nachts
begann es erneut zu regnen. Die Regengüsse stürzten brutal vom Himmel, peitschten uns. Wir gingen den Großteil der
Nacht hindurch, wischten uns das Wasser aus den Gesich-
tern, um etwas sehen zu können. Schließlich war an ein
Weitergehen nicht mehr zu denken, und so setzten wir uns
an den Fuß eines riesigen Baums und warteten. Immer
wenn es über dem Wald blitzte, konnte ich alle rings um
mich sitzen sehen. Wir hatten die Gesichter auf die Knie
gelegt und die Arme verschränkt.
Die letzten Stunden der Nacht zogen sich endlos. Als der
Regen aufhörte, war es längst hell. Wir zitterten, unsere Fin-gerkuppen waren blass und schrumpelig.
»Wir sehen aus wie durchweichte Hühner«, sagte Musa la-
chend, als wir unter einem Baum hervorkrochen. Wir fanden eine Lichtung, zu der die Sonne durchdrang, wrangen unsere Hemden aus, breiteten sie auf Büschen aus und setzten uns in die Sonne und ließen uns trocknen.
Es war fast Mittag, als wir unsere feuchten Klamotten wieder anzogen und weitergingen. Wenige Stunden später hör-
103
ten wir in der Ferne einen Hahnenschrei. Musa sprang in die Luft und wir lachten.
Endlich näherten wir uns dem Dorf, in dem wir mögli-
cherweise unsere Familien sehen würden. Ich konnte nicht
aufhören zu strahlen. Kaffeebäume lösten den Wald ab, und auf dem Weg tauchten Fußspuren auf. Wir hörten, wie Reis
gestampft wurde und vernahmen Flüstergeräusche im Wind.
Wir beschleunigten unsere Schritte, da uns die Geräusche
versicherten, dass vor uns Leben lag. Auf der entgegengesetzten Seite der Kaffeeplantage lag eine kleine Bananenplantage, und dort trafen wir einen Mann, der reife Bananenstauden
schnitt. Sein Kopf war hinter Blättern verborgen und wir
konnten sein Gesicht nicht sehen.
»Guten Tag«, sagte Kanei.
Der Mann lugte hinter den Bananenblättern hervor. Er
wischte sich den Schweiß von der Stirn und kam auf uns zu.
Im Näherkommen, als er sich langsam über die raschelnden
trockenen Bananenblätter bewegte, weckte der Anblick seines Gesichts Erinnerungen.
Er hatte mehr Falten im Gesicht und war sehr viel dünner
als das letzte Mal, das ich ihn gesehen hatte. Sein Name war Gasemu, Ngor * Gasemu. Er war einer dieser berüchtigten alleinstehenden Männer in meiner Stadt gewesen. Damals
hatten alle darüber geredet, dass er nicht verheiratet war.
Weitere Kostenlose Bücher