Rueckkehr ins Leben
aufgeschüttete Erde nicht verwehte.
Nach der Beerdigung blieben wir alleine auf dem Friedhof
zurück. Überall waren frische Erdhaufen. Nur auf wenigen
stand etwas geschrieben. Die restlichen blieben anonym. Saidu war einfach nur dazugekommen. Wir saßen stundenlang
auf dem Friedhof, als würden wir auf etwas warten. Aber wir waren jung – alle dreizehn, außer Kanei, der drei Jahre älter war –, und unsere Gefühle waren völlig durcheinander. Ich konnte nicht begreifen, was ich empfand. Diese Verwirrung tat mir im Kopf weh, verkrampfte meinen Bauch. Bei Anbruch der Nacht verließen wir den Friedhof. Im Dorf war es ruhig. Wir setzten uns draußen auf den Baumstamm, auf dem wir auch gesessen hatten, als wir ins Dorf gekommen waren.
Keiner von uns dachte daran, sich auf einer Veranda schlafen zu legen. Kanei erklärte uns, dass Saidu beerdigt werden
musste, da es im Dorf Brauch war, die Toten nicht über
Nacht liegen zu lassen. Entweder akzeptierten wir das, oder wir hätten Saidu aus dem Dorf tragen müssen. Niemand antwortete Kanei. Er hörte auf zu reden, und die Hunde fingen wieder an zu jaulen. Das taten sie die ganze Nacht, bis wir unruhig wurden.
Wir liefen im Dorf auf und ab. Die meisten Menschen
schliefen nicht, wir hörten sie flüstern, wenn die Hunde Pause machten oder am entgegengesetzten Ende des Dorfes jaulten. Ich erinnerte mich daran, wie Saidu vor ein paar Wo-
chen davon gesprochen hatte, dass mit jedem Tag unserer
Reise ein Stück von ihm starb. Vielleicht war in jener Nacht, als er mit der seltsamen Stimme gesprochen hatte, nachdem wir den Angriff der Männer mit den Macheten, Äxten und
Lanzen überlebt hatten, der Rest von ihm gestorben, dachte ich. Meine Hände und Füße zitterten und es hörte die ganze Nacht nicht auf. Ich machte mir Sorgen und rief immer wieder die Namen meiner Freunde, damit sie nicht einschliefen.
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Ich hatte Angst, dass derjenige von ihnen, der einschlief, auch sterben würde. Früh am nächsten Morgen erklärte uns Kanei, dass wir nach Sonnenaufgang zum nächsten Dorf weiterzie-hen wollten. »Ich halt’s nicht aus, wenn ich mir noch eine Nacht die Hunde anhören muss. Die jagen mir Angst ein«,
sagte er.
An jenem Morgen bedankten wir uns bei den Männern,
die uns geholfen hatten, Saidu zu beerdigen. »Ihr werdet immer wissen, wo er begraben ist«, sagte einer der Männer. Ich nickte zustimmend, aber ich wusste, dass die Chancen, dass ich in das Dorf zurückkommen würde, gering waren, da wir
keinen Einfluss auf unsere Zukunft hatten. Wir wussten nur, wie man überlebt.
Als wir das Dorf verließen, stellten sich alle in einer Reihe auf und sahen uns nach. Ich fürchtete mich, weil mich das daran erinnerte, wie wir mit Saidus Leichnam durch das Dorf gegangen waren. Auf dem Weg in das Dorf, in dem wir unsere Familien wiederzufinden hofften, kamen wir am Orts-
rand am Friedhof vorbei. Die Sonne schien auf den Friedhof, und als wir dort standen, wehte ein leichter Wind, in dem sich die Bäume, die um die Erdhügel standen, sanft wiegten.
Ich spürte einen Schauder im Nacken, als würde jemand sanft darauf pusten. Eine feine Rauchsäule erhob sich aus dem
Dorf, schlängelte sich in den Himmel. Ich sah ihr nach, bis sie schließlich verschwand. Wir ließen unseren Freund zurück, oder wie meine Großmutter gesagt haben würde: »Seine vor-
übergehende Reise durch diese Welt war beendet.« Wir al-
lerdings mussten weiter.
Als wir weggingen, schluchzten wir alle. Die Hahnen-
schreie verstummten, wodurch wir uns unseres Schweigens
nur noch bewusster wurden, des Schweigens, das die Frage in sich barg: Wer würde als Nächster von uns gehen? Die Frage stand in unseren Blicken geschrieben, als wir einander ansahen. Wir gingen schnell, als wollten wir den Tag festhalten, da wir Angst hatten, dass mit der Nacht auch die ungewissen Seiten unseres Lebens anbrachen.
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Die ganze Nacht hindurch waren wir schweigend gelaufen,
bis wir stehen blieben und lauschten, wie der Gesang der
Vögel am Morgen die Stille des Tages durchbrach. Als wir
uns an den Rand des Pfads setzten, begann Moriba zu
schluchzen. Er saß abseits von uns, wie er es sonst mit Saidu getan hatte. Er spielte mit einem Aststück und versuchte, sich von seinen Gefühlen abzulenken. Alle außer mir begannen zu schluchzen und setzten sich zu Moriba, der nun
laut weinte. Ich saß alleine, bedeckte mein Gesicht mit den Handflächen, um die Tränen zurückzuhalten. Nach ein
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