Rueckkehr ins Leben
gegenseitig in die Hände und fielen uns in die Arme. Er war immer noch größer als ich. Wir setzten uns zusammen auf die Stufen und sprachen kurz über die Streiche unserer Kindheit. »Manchmal denke ich an die tolle Zeit zurück, die wir hatten, als wir bei den Talentwettbewerben aufgetreten sind, neue Tänze geübt und Fußball
gespielt haben, bis wir den Ball nicht mehr sehen konnten …
Das scheint alles sehr lange her zu sein. Das ist wirklich seltsam, weißt du«, sagte er und sah eine Weile weg.
»Ich weiß, ich weiß …«, sagte ich.
»Du warst ein Unruhestifter«, erinnerte er mich.
»Ja, ich weiß …«
Zu Beginn meines siebten Monats im Rehabilitationscen-
ter kam Leslie erneut zu einem Gespräch. Ich wurde in einen Raum der Krankenstation gerufen, in dem er bereits wartete.
Als ich den Raum betrat, stand er auf und begrüßte mich.
Sein Gesicht zeugte sowohl von Kummer als auch von
Glück. Ich fragte ihn, was los sei.
»Geht’s dir gut?« Ich sah ihn mir genau an.
»Ja.« Er kratzte sich am Kopf und murmelte etwas vor sich hin. »Tut mir leid, dass ich wieder mit dem Thema anfangen muss. Ich weiß, es wird dich traurig machen, aber ich muss 197
ehrlich zu dir sein«, sagte Leslie. Er ging im Raum auf und ab und fing an: »Es ist uns nicht gelungen, Familienangehörige von dir ausfindig zu machen, deshalb müssen wir eine Pflegefamilie hier in der Stadt für dich suchen. Ich hoffe, dass du damit einverstanden bist. Wenn du die Rehabilitation abge-schlossen hast, dann sehe ich mir natürlich an, wie es dir in deinem neuen Leben ergeht.«
Er setzte sich, sah mich an und fuhr fort: »Hast du irgendwelche Fragen oder sonst etwas auf dem Herzen?«
»Ja, ich glaube schon«, sagte ich. Ich erzählte ihm, dass mein Vater vor dem Krieg von einem Onkel erzählt hatte,
der in der Stadt wohnte. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah, geschweige denn, wo er wohnte.
»Wie heißt er?«, fragte Leslie.
»Sein Name ist Tommy, und mein Vater hat mir erzählt,
er sei Schreiner«, entgegnete ich.
Leslie schrieb den Namen meines geheimnisvollen Onkels
in sein Notizbuch. Nachdem er sich seine Notizen gemacht
hatte, sagte er: »Ich kann nichts versprechen, aber wir werden sehen, was wir herausfinden. Ich melde mich bald wieder bei dir.« Er hielt inne, klopfte mir auf die Schulter und fuhr fort:
»Ich hab gehört, du machst dich ganz toll. Weiter so.«
Er verließ den Raum. Ich rechnete nicht damit, dass es
ihm gelingen würde, meinen Onkel in einer so großen Stadt zu finden, schon gar nicht mit den wenigen Informationen, die ich ihm hatte geben können. Ich verließ das Zimmer und ging zu Esther auf der anderen Seite des Gebäudes. Sie war damit beschäftigt, neue Vorräte an Verbandszeug und Medikamenten in den Schränken zu verstauen, die an den Wänden hingen. Kaum hatte sie bemerkt, dass ich in der Tür stand, lächelte sie, fuhr aber mit ihrer Arbeit fort. Ich setzte mich und wartete, bis sie fertig war.
»Wie war dein Treffen mit Leslie?«, fragte sie und räumte die letzte Medikamentenschachtel ein. Ich erzählte ihr, was er gesagt hatte, und schloss damit, dass ich skeptisch sei, ob Leslie meinen Onkel würde finden können. Sie hörte aufmerk-
sam zu und sagte: »Man weiß nie. Vielleicht findet er ihn.«
Eines Samstags, als ich mich gerade mit Esther und Mo-
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hamed unterhielt, kam Leslie mit einem breiten Lächeln im Gesicht herein. Ich vermutete, er hätte eine Pflegefamilie für mich gefunden und dass ich nun »wiedereingegliedert« werden sollte – das war die Bezeichnung für den Prozess der
Rückkehr eines ehemaligen Kindersoldaten in die Gemein-
schaft.
»Gibt es gute Neuigkeiten?«, fragte Esther. Leslie betrachtete mein neugieriges Gesicht, ging dann wieder zur Tür und öffnete sie. Ein großer Mann kam herein. Er lächelte breit und aufrichtig, was sein Gesicht wie das eines kleinen Jungen aussehen ließ. Seine Hände waren groß, und er sah mir direkt und lächelnd in die Augen. Er war nicht so hellhäutig wie mein Vater.
»Das ist dein Onkel«, verkündete Leslie stolz.
»Wie geht’s, Ishmael?«, fragte der Mann und kam zu mir
herüber. Er beugte sich vor und umarmte mich lange und
fest. Ich ließ die Arme hängen. Was ist, wenn dieser Mann nur vorgibt, mein Onkel zu sein?, dachte ich. Der Mann ließ mich los. Er weinte. Und da fing ich an zu glauben, dass er wirklich zu meiner Familie gehörte, denn sein Weinen war
aufrichtig – und in meiner Kultur weinen
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