Rueckkehr ins Leben
Männer sehr selten.
Er kauerte sich neben mich und begann: »Es tut mir leid,
dass ich euch in all den Jahren nie besucht habe. Ich wünschte, ich hätte dich vorher schon kennen gelernt. Aber wir
können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir müssen jetzt neu
anfangen. Es tut mir so leid, dass du alles verloren hast. Leslie hat’s mir erzählt.« Er sah Leslie dankbar an und fuhr fort:
»Wenn du hier so weit bist, dann kannst du bei mir wohnen.
Du bist mein Sohn. Ich habe nicht viel, aber ich gebe dir einen Platz zum Schlafen, Essen und meine Liebe.« Er legte die Arme um mich.
Mich hatte sehr lange niemand mehr Sohn genannt. Ich
wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle schienen auf meine Antwort zu warten. Ich wandte mich an meinen Onkel, lä-
chelte ihn an und sagte: »Vielen Dank, dass du mich besuchst.
Ich freue mich sehr, dass du mir anbietest, bei dir zu wohnen.
Aber ich kenne dich überhaupt nicht.« Ich senkte den Kopf.
»Wie gesagt, wir können die Zeit nicht zurückdrehen.
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Aber wir können neu anfangen. Ich bin deine Familie, und
das genügt, damit wir uns mögen«, erwiderte er, rieb sich die Augen und lachte ein wenig.
Ich stand auf und umarmte meinen Onkel, er drückte
mich noch fester als beim ersten Mal und küsste mich auf die Stirn. Wir standen kurz schweigend da, bevor er erneut etwas sagte: »Ich kann nicht lange bleiben, weil ich am anderen Ende der Stadt arbeite. Aber von jetzt an besuche ich dich jedes Wochenende. Und wenn das in Ordnung ist, dann
würde ich mich freuen, wenn du mich mal zu Hause be-
suchst, damit du siehst, wo ich wohne, und damit du meine Frau und Kinder kennen lernst – deine Familie.« Die Stimme meines Onkels zitterte; er versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Er strich mir mit einer Hand über den Kopf und schüttelte mit der anderen die von Leslie.
»Wir halten Sie ab jetzt auf dem Laufenden darüber, wie
es dem jungen Mann hier geht«, sagte Leslie.
»Danke«, erwiderte mein Onkel. Er hielt meine Hand,
und ich ging mit ihm auf den Transporter zu, mit dem Leslie und er gekommen waren. Bevor mein Onkel mit Leslie in
den Wagen stieg, umarmte er mich noch einmal und sagte:
»Du siehst aus wie dein Vater und du erinnerst mich an ihn, wie er war, als wir noch jung waren. Ich hoffe, du bist nicht so stur wie er.« Er lachte, und auch ich musste lachen. Esther, Mohamed und ich winkten ihnen nach.
»Das scheint ein netter Mann zu sein«, sagte Esther, kaum dass der Wagen außer Sichtweite war.
»Gratuliere, Mann, du hast Familie in der Stadt, weit weg von dem ganzen Wahnsinn«, sagte Mohamed.
»Schätze schon«, sagte ich, aber ich wusste mit meinem
Glücksgefühl nichts anzufangen. Ich traute mich nicht, mich gehen zu lassen, denn ich glaubte noch immer, dass das Glück sehr zerbrechlich war.
»Komm schon, Mann, lach mal«, Mohamed zog mich an
den Ohren, und er und Esther hoben mich hoch und trugen
mich lachend zur Krankenstation. In der Krankenstation legte Esther die Bob-Marley-Kassette in den Kassettenrekorder,
und wir sangen alle Playback zu »Three Little Birds«. »Don’t 200
worry about a thing«, trällerten wir, »’cause every little thing gonna be all right …«
An jenem Abend saß ich mit Mambu, Alhaji und Moha-
med auf der Veranda. Wir redeten wie gewöhnlich nicht viel.
Die Sirene eines Krankenwagens irgendwo in der Stadt ero-
berte die Stille der Nacht. Ich fragte mich, was mein Onkel wohl im Moment machte. Ich stellte mir vor, wie er seiner versammelten Familie von mir erzählte. Ich konnte sehen,
wie er während seines Berichts schluchzte und seine Familie mit ihm weinte. Insgeheim wünschte ich mir, dass sie schon jetzt so viel wie möglich weinten, bevor ich sie kennen lernte, denn es war mir immer unangenehm, wenn Leute wegen
dem, was ich durchgemacht hatte, weinten. Ich sah Alhaji
und Mambu an, die in die dunkle Nacht starrten. Ich wollte ihnen von der Entdeckung meines Onkels erzählen, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil von ihren Familienangehörigen niemand gefunden worden war. Auch wollte ich die
Stille nicht stören, die zurückgekehrt war, nachdem das Heu-len des Krankenwagens verklungen war.
Wie versprochen besuchte mich mein Onkel jedes Wo-
chenende.
»Mein Onkel kommt. Ich hab ihn unten an der Straße an
dem Mangobaum gesehen«, erzählte ich Esther am Wochen-
ende nach seinem ersten Besuch.
»Du klingst ja so, als würdest du dich freuen.« Sie legte den Stift hin, sah mir
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