Rueckkehr ins Leben
unterschiedliche Leben sprach, das ich vor und während des Krieges geführt hatte. »Nichts davon ist deine Schuld«, sagte sie stets sehr ernst am Ende unserer Unterhaltungen. Ich hatte den Satz bereits von jedem Mitarbeiter gehört – und hasste ihn mittlerweile – doch an jenem Tag fing ich an, ihn zu
glauben. Es war der aufrichtige Ton in Esthers Stimme, der dazu führte, dass sich der Satz in meinem Kopf und meinem Herzen endlich einprägte. Das machte mich nicht immun gegen die Schuldgefühle, die ich wegen meiner Taten empfand.
Aber die belastenden Erinnerungen wogen dadurch weniger
schwer und ich hatte die Kraft, über alles nachzudenken. Je mehr ich mit Esther über meine Erlebnisse sprach, desto
mehr schauderte ich vor den grausigen Einzelheiten zurück, obwohl ich mir das nicht anmerken ließ. Ich vertraute Esther nicht vollkommen. Ich redete nur gerne mit ihr, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mich nicht verurteilte für das, woran ich beteiligt gewesen war. Sie sah mich immer mit demselben
einladenden Blick und demselben herzlichen Lächeln an, gerade so, als wolle sie sagen, ich sei doch noch ein Kind.
Eines Abends nahm mich Esther mit zu sich nach Hause
und kochte mir etwas zu essen. Nach dem Essen gingen wir
in der Stadt spazieren. Wir gingen zum Kai am Ende der
Rawdon Street. Der Mond stand in jener Nacht am Himmel,
und wir setzten uns auf den Anlegesteg und betrachteten ihn.
Ich erzählte Esther von den Formen und Gestalten, die ich im Mond entdeckt hatte, als ich noch klein war. Sie war fasziniert. Wir schauten den Mond an und beschrieben uns ge-
genseitig, was wir entdeckten. Auf dem Rückweg zu ihr nach Hause betrachtete ich nicht mehr die Lichter der Stadt. Ich sah in den Himmel und hatte das Gefühl, dass uns der Mond folgte.
Als ich klein war, hatte mir meine Großmutter einmal er-
zählt, dass der Himmel zu jenen spreche, die hinsähen und hinhörten. Sie sagte: »Am Himmel gibt es immer Antworten
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und Erklärungen für alles: jeden Schmerz, jedes Leid, Freude und Verwirrung.« In jener Nacht wollte ich, dass der Himmel zu mir sprach.
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Ich war bereits den fünften Monat in Benin Home, als ich
eines Tages hinter dem Unterrichtsraum auf einem Stein saß und Esther vorbeikam. Sie setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, neben mich. Sie hatte mein Notizbuch mit den Texten
in der Hand. »Ich hab das Gefühl, dass in mir nichts mehr ist, für das es sich zu leben lohnt«, sagte ich langsam. »Ich habe keine Familie mehr, es gibt nur noch mich. Niemand kann
mehr Geschichten über meine Kindheit erzählen.« Ich
schniefte ein bisschen.
Esther legte die Arme um mich und zog mich näher an
sich heran. Sie schüttelte mich, damit sie meiner ganzen
Aufmerksamkeit sicher war, bevor sie sagte: »Betrachte mich als deine Familie, ich bin deine Schwester.«
»Aber ich hab nie eine Schwester gehabt«, antwortete ich.
»Dann hast du eben jetzt eine. Siehst du, das ist das Schöne daran, wenn man eine neue Familie gründet. Man kann sich
seine Familienangehörigen aussuchen.« Sie sah mich direkt an, wartete darauf, dass ich etwas sagte.
»Okay, du darfst meine Schwester sein – vorübergehend«,
ich betonte das letzte Wort.
»Einverstanden. Also kommst du deine vorübergehende
Schwester morgen bitte besuchen.« Sie bedeckte ihr Gesicht, als wäre sie traurig, wenn ich ablehnen würde.
»Okay, okay, kein Grund traurig zu sein«, sagte ich und
wir lachten beide ein bisschen.
Esthers Lachen erinnerte mich immer an Abigail, ein
Mädchen, mit dem ich mich öfter getroffen hatte, als ich
noch in Bo Town auf die Schule ging. Manchmal wünschte
ich, Esther wäre diese Abigail, damit wir über die vergange-194
nen Zeiten vor dem Krieg hätten reden können. Ich wollte, dass wir aus ganzem Herzen lachten, ausdauernd und ohne
Sorge, so wie ich das mit Abigail getan hatte und jetzt nicht mehr tun konnte. Mit unserem Lachen machte sich so auch
immer ein Gefühl von Traurigkeit breit, dem ich mich nicht entziehen konnte.
Manchmal starrte ich Esther an, wenn sie mit Papierkram
beschäftigt war. Wenn sie merkte, dass mein Blick auf ihrem Gesicht ruhte, warf sie ein Stück zusammengeknäultes Papier nach mir, ohne dabei in meine Richtung zu sehen. Ich lä-
chelte und steckte den Papierball in die Tasche, tat so, als wäre das leere Papier eine besondere Nachricht, die sie mir geschrieben hatte.
Am folgenden Tag sagte mir Esther, dass Besucher ins
Center kämen. Die
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