Rückkehr nach Kenlyn
glänzte noch feucht im Lichtschein. Ein Schatten von Bart lag um seinen Mund und das kaum bemerkbare Kinn.
Wäre sie diesem Gesicht auf dem Marktplatz oder sonst wo begegnet, sie hätte es gesehen und gleich wieder vergessen – wenn seine Augen nicht gewesen wären: tiefbraun, klug und gütig. Sie schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als sie, höchstens sechsundzwanzig. (Wie sich später herausstellte, hatte sie etwa fünf Jahre zu niedrig angesetzt.)
»Ich hoffe, der Regen hört bald auf«, sagte er und blickte zum Eingang der Höhle. Ein Vorhang aus Wasser verbarg die Welt dahinter. Der Wind heulte wie ein Chor gequälter Skria.
»Ja«, sagte sie und streckte eine Hand nach dem Feuer aus, spürte die wohlige Hitze auf der unterkühlten Haut.
In dieser Hemisphäre war Spätsommer. Eine drückende Sonne hatte den ganzen Tag geschienen und sie auf ihrem Weg durch den Wald begleitet. Als dann die ersten Tropfen gefallen waren, dick und schwer, hatte sie nicht einmal daran gedacht, ihre Kapuze überzuziehen. Nur ein kurzer Schauer; es würde sie nicht umbringen.
Dann hatten sich Wolken wie Stahlmauern vor die Sonne geschoben und aus dem kurzen Schauer war eine regelrechte Sintflut geworden. Sie hatte sich gegen den Wind stemmen müssen, um voran zu kommen, doch der Wind war stärker gewesen; während er junge und nicht ganz so junge Bäume um sie herum halb entwurzelte, schleuderte er sie in den Fluss. Liyen erinnerte sich, wie kalte, nasse Dunkelheit sie umschloss und die Fluten in ihren Ohren dröhnten. Als sie es geschafft hatte, aufzutauchen, fand sie sich Hunderte von Metern weiter flußabwärts wieder, und der Regen hämmerte auf sie ein wie Tausende winziger Fäuste. Sie hatte versucht, zurück zum Ufer zu gelangen, doch es war zwecklos gewesen: Die Strömung hatte sie mit sich gerissen, während sie Wasser schluckte, hustete und schrie.
Das Donnern des nahenden Wasserfalls hatte sogar den Sturm übertönt, und im heißkalten Schock der Erkenntnis wurde ihr klar, dass sie ertrinken würde. Wenn nicht im Fluss, dann in den brüllenden Fluten unter dem Wasserfall.
Als sie ihn gesehen hatte, seine Silhouette von Regen überströmt, die Lichtkugel in der Hand, hatte sie sich zu ihrer grausamen Fantasie beglückwünscht. Bis sie seine Stimme gehört und das Seil gesehen hatte, das er ihr zuwarf.
»Danke«, sagte sie nun.
Es schien ihm nicht der Rede wert zu sein. »Du hattest Glück, dass ich gerade in der Nähe war.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es außer mir noch jemanden hier draußen gibt.«
»Genau wie ich. Aber du warst eine angenehme Überraschung.«
Sie grinste; sie hatte etwas Ähnliches sagen wollen. »Was machst du hier draußen – so weit ab von der richtigen Welt?«
Er lächelte wieder sein unwiderstehliches Lächeln. »Ich könnte dich dasselbe fragen.«
»Ich wollte allein sein«, antwortete sie. Es klang dramatischer als sie beabsichtigt hatte.
»Dann sind wir schon zwei.« Er zögerte. Seine Augen reflektierten die Flammen, als er sie ansah. »Wenn ich das fragen darf: Wovor bist du davon gelaufen?«
»Ist das so offensichtlich?«
»Ich fürchte, ja.«
Wieder streckte sie die Hand nach dem Feuer aus, wobei sie darauf achtete, dass ihr die Decke nicht von den Schultern rutschte. »Es gab da einen Jungen.« Sie lächelte trocken. »Ich dachte, er liebt mich. Aber dann ... kam jemand dazwischen.« Sie erkannte seinen Blick. »Nein, nicht wie du denkst. Es war ... ein alter Mann, der zurück nach Hause wollte, bevor er starb. Und Kai bekam Mitleid mit ihm, wollte ihm helfen. Ich wollte das nicht. Wir haben uns gestritten. Und ich bin fortgelaufen.«
Er hörte ihr zu, als gäbe es nichts außer ihrer Stimme, und sein Blick ließ sie sich fühlen wie der Mittelpunkt des Universums; sie könnte sich daran gewöhnen.
»Es ist jetzt einen Monat her. Und ich frage mich immer wieder: Wie viel von dem, was wir hatten, war echt? Ich habe oft darüber nachgedacht, zurückzugehen, mit ihm zu reden. Aber eigentlich wäre ich ziemlich froh, wenn ich ihn nie wiedersehen müsste.«
Sie sahen beide auf, als etwas Kleines, Haariges fiepend durch die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins wuselte. »Und du, Yelos Lebensretter? Wovor läufst du davon?«
Er zeigte ein ironisches Lächeln. »Ist das so offensichtlich?«
Sie lachte. »Ich fürchte, ja.«
Er stocherte nachdenklich mit einem Stock im brennenden Holz. Es dauerte lange, bis er wieder irgendetwas sagte. »Vor fünf Jahren habe
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