Rückkehr nach Kenlyn
ich eine große Aufgabe übernommen. Und jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich ihr wirklich gewachsen bin.« Er zog den Stock aus dem Feuer und betrachtete gedankenverloren die glühende Spitze. »Es gab da jemanden ... Sie hatte mich ausgesucht, ihr Nachfolger zu werden.« Er verzog den Mund zu einem ungläubigen Grinsen. »Ausgerechnet mich, von all den anderen Kandidaten! Aber sie glaubte, ich wäre der Richtige. Sie glaubte, ich wäre jemand, dem die Leute folgen.«
Liyen runzelte die Stirn. »Und dieser jemand ist ... ich meine, war ... ?«
»Meine Mentorin, so lange ich denken kann. Meine Freundin. Ich dachte, sie würde für immer bei uns bleiben. Aber sie wurde alt. Eines Tages hatte sie mir eröffnet, dass mein ganzes bisheriges Leben – meine Erziehung, meine Ausbildung, all das – nur darauf ausgerichtet war, eines Tages ihren Platz einzunehmen. Sie war die Ururenkelin eines sehr berühmten Mannes, aber sie selbst hatte keine Erben. Sie ... hat etwas in mir gesehen, und ich weiß nicht, was. Sie war soviel klüger als ich. Aber ich glaube, in dieser Sache hat sie sich geirrt.« Er schüttelte den Kopf. »In den letzten Jahren wurden meine Zweifel stärker als mein Vertrauen in sie. Also habe ich meine Leute verlassen – heimlich – um mir klar zu werden, ob ich meine Aufgabe durchführen kann oder sie an jemand anderen weiterreiche, der sich seiner selbst etwas sicherer ist.«
Er schwieg und eine Weile lauschten sie dem Regen. Irgendwann fragte Liyen: »Was erwarten sie von dir?«
»Dass ich sie anführe.« Sein Blick schien von den Flammen wie hypnotisiert. »Dass ich ein Symbol werde; die Verkörperung der Zukunft, der Hoffnung. Aber dazu muss ich grausam sein. Ich muss aufhören, ein Mensch zu sein.« Er sah, wie sie skeptisch die Augenbrauen verzog, und lächelte zaghaft. »Es ist einigermaßen kompliziert.«
»Den Eindruck habe ich auch.« Liyen zwinkerte ihm zu. Ihr anfänglicher Verdacht erhärtete sich immer mehr: Er schien irgendeiner obskuren Religionsgemeinschaft anzugehören – einer von den Aberhunderten, die es quer durch die Welt verstreut gab; wahrscheinlich war er einer von den Dutzenden Auserwählten/Weltenrettern/Erlösern des Universums, die diese hervorgebracht hatten. Schade, sie fing gerade an, sich ernsthaft für ihn zu interessieren.
»Ich habe Angst«, gestand der junge Mann namens Yelos. »Angst davor, wie die Rolle, die ich spielen muss, mich verändern wird. Angst vor dem Mann, der ich werden muss.«
»Dieser Posten bringt also nur Nachteile, hm?«
»Nein«, sagte er beinahe erschrocken, als wäre ihm dieser Gedanke völlig neu. »Es ist eine einmalige Chance! Die Möglichkeit, wirklich etwas zu verändern, die Welt zu einem besseren Ort zu machen!«
Sein Blick, sein Tonfall, seine Gesten – all das zeigte ihr, dass er wirklich daran glaubte. Sie fand es beeindruckend, wie weit man sich selbst belügen konnte. Sie fand Religionen interessant, wenigstens aus kultureller Sicht. Doch sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich ihnen hinzugeben. Sie zuckte mit den Achseln. »Die Welt könnte ein paar kleine Verbesserungen hier und da gebrauchen.«
Yelos blickte zur steinernen Decke, die sich über ihnen wölbte, und betrachtete die Kreidezeichnungen dort, als könne er in ihnen die Zukunft lesen. Er klang traurig, als er sagte: »Wir könnten so viel mehr sein – die Hohen Völker, meine ich. Aber wir haben es vergessen.« Dann hob er den Blick und sah sie an, und als sie die Worte hörte, spürte sie ihre Wirkung wie einen elektrischen Schlag: »Jemand muss sie wieder daran erinnern, Liyen.«
So sah sie ihn noch heute vor sich: der Ernst in seinem Blick, sein Verlangen, das Richtige zu tun.
» Jemand muss sie wieder daran erinnern, Liyen. «
Der Ruf eines Ara holte sie zurück in die Gegenwart, zurück in den Geheimen Garten. Liyen atmete tief die feuchte Luft ein und ihre Hand streifte einen der allgegenwärtigen Farne, zwischen denen der kleine Weg hindurchführte, auf dem sie ging. In den Bäumen über ihr tummelten sich juwelenbunte Vögel und neugierige Kapuzineraffen. Die leuchtenden Flächen an der Decke, weit, weit über ihr, spendeten volles, warmes Licht. Wären die Steinwände ringsum nicht gewesen, hätte sie fast geglaubt, unter freiem Himmel zu stehen.
Yelos’ Vorgängerin, die Schattenkaiserin Ka’Dirai, Nachfahrin des großen Rul’Kshura, hatte diesen künstlichen Wald hier, inmitten der Marmorhallen des Palastes, anlegen lassen. Wo
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