Rückkehr nach Kenlyn
Etwas hängen, das unter dem Tuch versteckt war. Sie dachte an all die Dinge, die er von sich erzählt hatte, die Portale, die sie nicht sehen durfte – und auf einmal kam ihr die Erkenntnis. Sie hätte sich ohrfeigen können, dass sie nicht schon viel früher dahinter gekommen war.
»Du brauchst eine Erklärung«, sagte Yelos. »Wer ich bin; wer ich wirklich –
»Nein.« Sie sah ihn an. »Ich weiß, wer du bist.«
»Du weißt es? Woher?«
»Kleinigkeiten. Bemerkungen, die du fallen lassen hast. Deine Geschichte. Und daran.« Sie zeigte zu dem verhüllten Ding neben dem Bett, von dem sie mit einemmal wusste, dass es eine Rüstung war.
Er schien besorgt. »Hast du Angst vor mir?«
»Sollte ich?« Sie sah ihn an, als wäre dies das Albernste, das sie je gehört hatte.
»Die meisten fürchten uns.«
»Hm. Mag sein.« Liyen verschränkte die Arme auf dem Rücken, damit er nicht sah, wie nervös sie war. »Aber ich höre mir gern beide Seiten an, bevor ich über irgendjemanden urteile.«
Yelos lächelte breit und mit strahlenden Zähnen. »Gute Einstellung.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Ich weiß.« Nein, sie hatte keine Angst; nicht mehr. Und sie wusste, dass sich ihr Leben ein zweites Mal von Grund auf ändern würde.
Später am Tage lagen sie unter den seidenen Decken des riesigen Bettes, glänzend vor Schweiß und im Einklang mit der Welt. Und im dämmrigen Schein der Lichtkugeln erzählte Yelos ihr alles, was er bislang verschwiegen hatte:
Er war einer der wenigen, die in den Kult hineingeboren waren; ein Nachfahre derer, die zum Ende des Zweiten Schattenkrieges den Weißmänteln entkommen waren und sich in diesen Palast geflüchtet hatten. Schon damals hatte es einen neuen Schattenkaiser gegeben, und dieser hatte sein Amt und seine Maske an einen von ihm auserwählten Nachfolger weitergegeben, von Generation zu Generation.
Yelos’ Eltern waren beide Agenten des Kults gewesen und in der Erfüllung ihrer Pflicht gestorben, kurz nach seinem siebten Geburtstag. Der damalige Schattenkaiser, der fünfundzwanzigste Träger dieses Titels, hatte ihn unter seine Fittiche genommen – und obwohl eine lange Zeit vergehen würde, bis er dessen Gesicht sah, spürte Yelos die Zuneigung des Wesens hinter der Maske.
Jahre vergingen und der Kaiser vertraute ihm besondere Aufgaben an: wichtige Botengänge, die Überwachung geheimer Missionen, Verhöre von Mitgliedern, die unter dem Verdacht der Untreue standen. Und an der Seite seines Gebieters erfuhr Yelos von verborgenen Waffenarsenalen, versiegelten Nexus-Portalen und anderen Geheimnissen, die im kommenden, letzten Krieg gegen die Friedenswächter eingesetzt werden würden.
Yelos war vierundzwanzig gewesen, als der Schattenkaiser ihn in seinen Geheimen Garten geholt und dort die Maske für ihn gelüftet hatte. Yelos war überwältigt gewesen von der Ehre und nicht wenig überrascht, dass sein Gebieter in Wirklichkeit eine Frau war – und noch dazu die tot geglaubte Ka’Dirai, Urenkelin des legendären Rul’Kshura; eine greise Skria mit ergrautem Fell und trüben Katzenaugen, die ihm eröffnete, dass sie ihren Tod nahen fühlte und es an der Zeit war, ihren Nachfolger zu bestimmen. Ihre Wahl war auf ihn gefallen, schon lange zuvor. Sie selbst hatte keine Nachkommen, keinen Erben. Und Yelos hatte seine Eignung bewiesen.
Er begriff, dass sie ihn in all den Jahren auf diesen Tag vorbereitet hatte. Dennoch erbat er sich eine Woche Bedenkzeit – und noch drei Tage vor Ablauf der Frist akzeptierte er Ka’Dirais Angebot. Zu seinem Schutz und um seine Abwesenheit zu erklären, wurde sein Tod vorgetäuscht, und er zog in Ka’Dirais Gemächer, die einen Palast innerhalb des Palastes bildeten, und nur von den wenigen Auserwählten der Kaiserin betreten werden konnten.
Hier weihte sie ihn in die letzten Mysterien des Kults ein; er würde keinem seiner zukünftigen Untertanen jemals wieder begegnen, ohne die schwarze Maske zu tragen.
Als die weise Skria ans Ende ihres langen Lebens gelangte, war allein Yelos bei ihr und hielt ihre Hand, bis sie entschlafen war. Er trauerte um sie wie um seine Eltern. Dann war der Augenblick gekommen, ihre Rolle zu übernehmen.
Sieben Jahre lang hatte er als Schattenkaiser regiert, Entscheidungen über Leben und Tod getroffen und dafür gesorgt, dass immer mehr Kultagenten in den Orden der Friedenswächter und andere Schlüsselpositionen eingeschleust wurden. Doch dann kamen die Zweifel – war er der Richtige für seine Aufgabe?
Weitere Kostenlose Bücher