Rückkehr nach Kenlyn
Konnte es sein, dass seine Vorgängerin sich in ihm getäuscht hatte?
Und so hatte er seinem Mechanoid-Double für einige Wochen die Regierungsgeschäfte übertragen und den Palast hinter sich gelassen, um sich über sich und seine Aufgabe klar zu werden. Dabei wurde ihm sehr schnell bewusst, wie fremd ihm die Welt nach sieben Jahren geworden war. Nun wandelte er wieder unter den Hohen Völkern, hatte Teil an ihren Träumen, Ängsten, Sorgen und Hoffnungen und begann sich wieder zu erinnern, warum er tat, was er tat.
Dabei waren sie einander begegnet: die Ausreißerin aus Lorsha mit ihrem Hunger nach der Welt und der Herrscher, der an seinen eigenen Fähigkeiten zweifelte.
Es war Liyen, die ihm geholfen hatte, seine Entscheidung zu treffen, zurückzukehren und entschlossener als je zuvor für die Freiheit Kenlyns zu kämpfen. Für einen Traum, den sie teilte.
Niemand im Kult wusste von ihr: Sie und Yelos lebten allein in den kaiserlichen Gemächern, zu denen niemand außer ihnen und den Haushältermaschinen Zugang hatte. Und wann immer Yelos in der Maske des Schattenkaisers auf dem Kristallthron saß, sah Liyen ihm durch versteckte Aufzeichner zu. So lernte sie die Agenten und Funktionäre des Kults kennen, wie den greisen Kriegsminister Weron, die aufstrebende Elinn Halkar oder Attentäter wie Keru von den Keem-Raka, der bald nur noch unter dem Namen »Der Weiße Tod« bekannt war.
Schließlich erfuhr sie auch, wo sich der Palast befand (und ja, sie war tatsächlich überrascht) und lernte so viel sie konnte über die Vergangenheit des Kults und der Friedenswächter.
»Der Orden kämpft für die Ideale der Vergangenheit«, hatte Yelos ihr erklärt, als sie eines Nachts in der kaiserlichen Bibliothek zusammensaßen; zwei winzige Gestalten, umgeben von riesenhaften Bücherregalen. »Sie fürchten sich vor Veränderung; vor einer Welt ...«
»In der sie nicht mehr diejenigen mit dem größten Waffenarsenal sein werden.«
Yelos nickte. »Wenn es nach ihnen ginge, würden sie die Uhr um tausend oder zweitausend Jahre zurückdrehen. Unter den Sha Yang ist ihr Orden erst zur vollen Blüte gelangt: Von ihnen bekamen sie Schiffe und Sonnenaugen und durften in ihrem Namen Polizei spielen.
Aber wir kämpfen für Veränderung; für eine Zukunft, die uns die Sha Yang bislang verwehrt haben. Eine Zukunft, in der wir unser eigenes Schicksal wieder in die Hände nehmen.«
»Und habt ihr je daran gedacht, dass die Leute vielleicht gar keine Freiheit wollen? Sie haben sich Syl Ra Vans Herrschaft dreihundert Jahre lang gefallen lassen, ohne zu rebellieren.«
»Ja. Weil sie sich selbst eingeredet haben, dass man ihre Stimme sowieso nicht hören würde; weil sie anderen glauben, die ihnen sagen, sie könnten das Geschick der Welt nicht mitbestimmen. Weil sie Angst haben. Und weil es bequemer ist, nichts zu tun. Aber vorrangig, weil sie vergessen haben, wie es ist, frei zu sein. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu zeigen, dass es eine Alternative gibt.«
»Und was wird geschehen, wenn der Gouverneur gestürzt ist und die Weißmäntel besiegt?«
»Ich werde die Hohen Völker schonend darauf vorbereiten, wieder die Verantwortung über ihr eigenes Tun zu übernehmen – und abdanken.«
»Abdanken?«
»Die alten Kaiser wollten einfach nur die Herrschaft der Sha Yang und der Friedenswächter durch einen anderen, wenn auch wohlwollenden Herrscher ersetzen. Sie träumten von einer ewigen Schatten-Dynastie. Aber meine Ziele sind nicht unbedingt die meiner Vorgänger. Liyen, die Hohen Völker brauchen keinen weiteren Diktator, der sie lenkt. Um zu wirklicher Größe zu gelangen, müssen sie wieder lernen, sich selbst zu regieren. Auch wenn das vielleicht der schwerste Kampf von allen wird ...«
Ohne dass sie es wusste, hatte Yelos sie in den wenigen, kurzen Monaten, die sie zusammen gewesen waren, darauf vorbereitet, eines Tages seinen Platz einzunehmen – so wie Ka’Dirai ihn einst ausgebildet hatte. Rückblickend erschien es ihr wie ein düsteres Omen. Als habe er gewusst, was mit ihm geschehen würde.
Dieser Gedanke ängstigte sie. Aber wie hätte er es wissen sollen? Bei all seiner Macht hatte er genausowenig in die Zukunft sehen können wie seine Vorgänger. Und warum hätte er es ihr verschweigen sollen? Hatten sie nicht alle Geheimnisse geteilt?
Nein, das hatten sie nicht. Sie hatte Yelos geliebt, vielleicht sogar mehr als sich selbst. Doch eines hatte sie ihm niemals anvertraut: wie sie und Kai dem letzten der Sha Yang
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