Rückkehr nach Kenlyn
eine klaffende Wunde in den Fels geschnitten.
Am westlichen Horizont sah sie die Umrisse der Vulkane, die sich wie düstere Mahnmale aufreihten. »Dorn«, »Kralle«, »Reißzahn« hatten die Ersten Siedler sie genannt. Die schneegekrönten Schlote der seit Jahrmillionen erloschenen Giganten waren breit genug, um ganze Städte zu verschlucken.
Aber auch sie waren nur niedliche Sandburgen gegen die Mutter aller Vulkane weiter im Nordwesten – jenem Monstrum, das ehrfürchtig »Der Weltenberg« genannt wurde. Mit einem Durchmesser von sechshundert Kilometern ragte er über sechsundzwanzig Kilometer in den Himmel hinauf. Er war der größte Berg auf Kenlyn, dem Saphirstern oder dem bekannten Universum; der alles überschattende Wächter des Niemandslandes.
Endriel nahm es den Weißmänteln nicht übel, dass sie hier draußen keine Spuren des Kults entdeckt hatten: Es gab keinen besseren Ort auf der Welt, um sich zu verstecken. Allerdings hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass die Friedenswächter keine Schwierigkeiten haben würden, zumindest die Korona hier draußen zu finden. Falls der Kult sie nicht vorher aufspürte.
Endriel biss in ihren Apfel. Es war Nelen, die ihre Gedanken aussprach: »Irgendwo da unten hockt wahrscheinlich der Schattenkaiser mit seinen Leuten«, flüsterte sie, als fürchte sie, der Große Unbekannte könne sie hören.
»Der Schattenkaiser«, wiederholte Liyen und schüttelte säuerlich lächelnd den Kopf.
Alle sahen sie an.
»Wisst ihr, was wirklich unheimlich ist? Irgendwie scheint es in den Völkern ein tief verwurzeltes Verlangen nach Dunkelheit zu geben.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Miko.
»Ich bezweifle, dass der Kult so erfolgreich gewesen wäre, wenn er sich ›Verein zur allgemeinen Beglückung‹ genannt hätte. Aber so lange sich jemand eine schwarze Maske aufsetzt, gibt es viel zu viele, die ihm mit Freuden den Arsch küssen.«
Endriel zuckte mit den Achseln. »Tja, ich schätze, ein Hasenkostüm oder sowas wäre nicht halb so furchteinflößend.«
»Genau das ist das Problem: Furcht.« Liyen blickte wieder auf das rote Land. »Wir leben in einer Welt, in der Angst stärker ist als Liebe.«
Endriel sah Xeah bedächtig nicken und sagte: »Leider wird das keiner von uns so bald ändern.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Liyen. Nun war ihr Lächeln kämpferisch. »Aber was hält uns davon ab, es zu versuchen?«
Nachdem sie gefrühstückt hatte, meldete Endriel, dass sie in ihr Quartier zurück kehren würde, um sich weiter mit der Armschiene zu beschäftigen. Liyens Hilfe hatte sie abgelehnt. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte Endriel Liyens Stimme: »Man könnte fast meinen, sie mag mich nicht.« Und das mächtige Organ des Skria antwortete: » Niemand mag dich.«
In ihrem Quartier angekommen, begann Endriel erneut das tägliche Ritual: Sie nahm im Schneidersitz Platz, schloss die Augen und versuchte, das Brummen der Motoren auszusperren und ihre Gedanken frei fließen zu lassen. Die Kristalle fühlten sich warm unter ihren Fingern an. Sie atmete tief ein und tief aus, tief ein und tief aus, dann startete sie einen neuen Versuch, wobei sie sich schwor, diesen Raum erst wieder zu verlassen, wenn sie das verfluchte Passwort hatte.
Um ganz sicher zu gehen, sprach sie die Worte laut aus:
»›Der Leuchtturm von Quaigo.‹« Keine Reaktion. Aber sie hatte auch nicht ernsthaft mit einer gerechnet, jedenfalls nicht so schnell. Sie dachte an den Nomaden-Klan von dem Liyen gesprochen hatte. Wie hieß er noch? Die Keem-Brona? Keem-Ora? Keem-Rona, das war es!
Das Artefakt reagierte nicht, doch Endriel ließ sich davon nicht entmutigen.
»›Die Jünger der Gnadenreichen Sonne‹«, sagte sie. So nannte sich eine kleine Religionsgemeinschaft, die niemand besonders ernst nahm – und die Armschiene anscheinend auch nicht, denn sie verweigerte ihr immer noch den Zugang.
Endriel musste sich zurückhalten, nicht zu seufzen. »›Der Wandernde Basar!‹«
Wieder nichts.
»›Xida-Ma!‹«, sagte sie und präzisierte dann: »›Der Dschungel von Xida-Ma!‹« Nichts. »›Die Grasmeere!‹«, fügte sie hastig hinzu. Ohne Erfolg.
Ihre Schultern sanken herab. Damit war ihr Vorrat an Möglichkeiten vorerst erschöpft. Vielleicht hätte sie doch etwas mehr essen sollen, denn allmählich zeigte sich, dass sie ihre Erschöpfung längst nicht überwunden hatte. Vielleicht könnte ein bisschen Zucker ihre Synapsen wieder anfeuern?
Sehnsüchtig dachte sie an
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