Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
Vom Netzwerk:
spät. Ich kann nicht. Ich zog ihre Lieblingsgrimasse, die Hand wie ein Fernrohr vor dem Auge und den Piratenmund mit meinen schlechten Zähnen. Lachend drehte sie sich um, um ihrem Papa davon zu erzählen. Doch der winkte ungeduldig ab. Das Mädchen machte den Vorhang weiter auf und präsentierte mir mit einer ausholenden Handbewegung den Weihnachtsbaum in der Zimmerecke. Lächelnd unterdrückte ich ein Schluchzen. Was für eine schöne Tanne, kleine Abbie! Ich hob den Daumen. Sie klatschte in die Hände. Mike räumte sein Handy weg, ging zu seiner Tochter und sah mich an. Wie er da stand in dieser Wärme, diesem starken Glück. Und ich in der eisigen Nacht, meinem Winter. Eine Scheibe trennte uns. Ein weißer Spitzenvorhang, von einer Kinderhand gehalten. Der dunkle Mike, die leuchtende Abbie. Der Wissende und die Unwissende.
    »Unsere Rache wird das Leben dieser Kinder sein«, hatte ich an Dannys Grab gesagt.
    Und so geschah es, Abbie.
    Als Mike den Vorhang vor den Augen seiner Tochter zuzog, schloss ich meine. Ich würde diesen Moment bewahren. Diese Sorglosigkeit, diese Unschuld und diese Liebe zu mir.
    *
    Der erste Wagen hielt auf dem Bürgersteig, ohne Licht, zwischen der Haustür der O’Doyles und der Straße, wie damalsdie britischen Panzerwagen, die eine Verhaftung geheim halten wollten. Ich kannte den Fahrer, Rorry, einen aus dem Viertel Short Strand. Er hatte den Zündschlüssel stecken lassen. Daneben Cormac Malone, Mitglied des Zentralkomitees der Sinn Féin und Freund seit jeher. Seine Anwesenheit beruhigte mich. Ich war in den Händen der Partei, nicht der Armee ausgeliefert. Keiner der beiden wandte den Kopf. Konzentriert schauten sie vor sich hin, wie auf einer Autobahn im Regen. Hinten saß Peter Bradley, »Pete, der Killer«, der mehr Zeit in englischen Knästen verbracht hatte als in seinem Wohnzimmer.
    Pete kämpfte nicht gegen die Engländer, er hasste sie. Er machte keinen Unterschied zwischen einem Soldaten und einem Kind. Sie töteten unsere Kinder – also mussten wir ihre töten. Schlag um Schlag, Schmerz um Schmerz. Er verwechselte Loyalisten mit Protestanten. Wie für die Rassisten von gegenüber jeder Katholik die IRA in sich trägt, war für ihn kein Presbyterianer unschuldig. Bradley hatte panische Angst vor dem Frieden. Der Krieg war sein Leben. Nach dem Waffenstillstand hatten sich einige solcher Bradleys abgespalten und dem Häufchen angeschlossen, das sich weigerte, die Waffen niederzulegen. Das war auch für ihn eine Versuchung. Aber er tat es nicht. Die IRA blieb auch nach ihrer Auflösung seine Armee, und wir waren seine Chefs. Nur im Pub rief er manchmal lauthals Bobby Sands an, weil »der Typ« den Kampf fortgesetzt hätte.
    Am Freitag, dem 17. Mai 1974, hatte Peter Bradley mit seiner Verlobten Niamh Dublin besucht. Zum ersten Mal in ihrem Leben überschritten sie die Grenze. Da war er einundzwanzigund sie neunzehn. Ihre Hochzeit war für den 14. September geplant. Sie besichtigten das Hauptpostamt in der O’Connell Street, wo Connolly und seine Leute Ostern 1916 die provisorische Regierung der irischen Republik ausgerufen hatten. Sie küssten sich auf der Ha’penny Bridge, dem Steg der Verliebten über den Liffey. Sie gingen die Grafton Street hinauf und träumten davon, reich zu sein und zu studieren. Pete kaufte sich ein Paar Schuhe und Niamh eine weiße Bluse. Um siebzehn Uhr dreißig, als die erste Bombe explodierte, spazierten sie durch die Parnell Street. Die zweite Bombe fegte die Talbot Street hinweg. Die dritte zerstörte die South Leinster Street. Niamh wurde von der Wucht der Bombe mit dem Kopf gegen eine Wand geschleudert und zerrissen. Als die Feuerwehr und die Garda Síochána eintrafen, tröstete Peter die Tote und versuchte, ihren Arm wieder anzukleben.
    Eine Stunde später explodierte eine Bombe in Monaghan, einer Stadt an der Grenze. Siebenundzwanzig Tote in Dublin, sieben in Monaghan. Darunter eine Schwangere, eine Italienerin, und eine jüdische Französin, Tochter von KZ-Überlebenden.
    Die Ulster Defence Volunteers, eine loyalistische Miliz, hatten beschlossen, den Krieg in die irische Republik zu tragen. Das machten sie auch, auf ihre Art, ohne Vorwarnung. Sie wollten einfach Papisten töten. Die britischen Sicherheitskräfte wurden beschuldigt, ihnen geholfen zu haben.
    An diesem Tag wurde Peter Bradley, zwischen Blut und Fleischfetzen sitzend, zu »Pete, dem Killer«. Er kämpfte nicht mehr für die Freiheit Irlands, sondern um Niamh zu rächen,

Weitere Kostenlose Bücher