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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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Tasche stand schon fix und fertig neben dem Sessel. Sheila nahm sie und hielt sie mir hin. Sie wusste nichts, aber sie ahnte alles. Obenauf Geld, ein Sandwich mit Zwiebel und Ei, eine Flasche Wasser.
    Und der Schlüssel von Killybegs.
    Das Wohnzimmer war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Nur die kleine Lampe mit dem Schriftzug »Paris« auf dem nachtblauen Sockel, die auf der Anrichte stand, hatte Sheila eingeschaltet. Sie hatte mir das Foto von der Schlafzimmerwand in die Manteltasche gesteckt, ein Lächeln von uns dreien, als Jack sechs Jahre alt war und den schwarzen Plastikhelm eines Londoner Bobbys aufhatte. Dann wickelte sie mir den Schal neu. Gab mir die Wollhandschuhe, die ich auf dem Tisch am Eingang liegen gelassen hatte. Ich fürchtete kurz, sie würde weinen, aber sie weinte nicht. Nicht da, nicht vor mir. Sie hatte sogar so ein bleiches Lächeln aufgesetzt, wie man es am Krankenhausbett einem Sterbenden schenkt. Ich umarmte sie. Sie schob mich leicht von sich und nahm meine Hände. Und küsste sie, eine nach der anderen, wobei sie mir tief in die Augen schaute. Dann seufzte sie, griff in ihre Westentasche und überreichte mir den Rosenkranz meiner Mutter, abgenutzt in vielen Gebeten, die schwarzen Perlen glänzend wie Schrotkugeln.
    Mama war am 29. September 1979 nachts in Drogheda gestorben, mit einem Lächeln auf den Lippen. Morgens um fünf war sie aufgestanden und zu Fuß bis zum Phoenix Park gegangen, wo Johannes Paul II. sprechen sollte.
    Baby Sarah war vierzig und lebte im Salesianerinnenkloster St. Teresa’s in der Grafschaft Meath. Sie hatte Mama zu dieser Busreise der Ordensschwestern eingeladen. Bei strahlendem Wetter hatten sie in der Sonne gebetet.
    Abends kam Mama mit Fieber nach Hause. Sie betete leise. Seit sie allein lebte, besuchten die Nachbarinnen sie, bevor es dunkel wurde. Immer abwechselnd. An diesem Abend hatte Mama sich zum Ausgehen angekleidet: ihr schwarzes Kirchgangskleid mit dem weißen Kragen, Spitzenhandschuhe und Lackschuhe. So hatte sie sich auf ihr gemachtes Bett gelegt, das Bild der Jungfrau an ihre Brust gedrückt und zwei Kerzen auf dem Boden angezündet. Der Rosenkranz lag auf dem Nachttisch in einem blauen Umschlag.
    »Für Sheila Meehan, die es sehr nötig hat«, hatte Mama darauf geschrieben.
    So hatte die Nachbarin sie gefunden. Der Arzt sagte, meine Mutter sei an nichts gestorben. Sie sei einfach so gestorben.
    »Wenn man sterben will, muss man nur darum bitten«, hatte sie oft gesagt.
    Als ich unsere Haustür öffnete, um zu gehen, rührte Sheila sich nicht.
    Dreh dich nicht um, Tyrone. Schau nicht zurück. Schließ dein Leben geräuschlos. Die Nacht. Meine Straße. Mein Viertel. In der Ferne das erste betrunkene Gegröle. Das Fettpapier, das der Regen mir ans Bein klebt. Der Geruch von Belfast, diese köstlich widerliche Mischung aus Regen, Erde, Kohle, Dunkel, Elend. Diese durch Waffenlärm gewonnene Stille. Der wiedergekehrte Friede. Meine Pubs, meine Spuren, meine Schritte. Ich drückte das Tor zu dem Platz auf, aufdem das Memorial für das Zweite Bataillon der Belfast-Brigade stand. Die Fahne blähte sich im Wind wie am Mast eines Schiffes. Die Liste unserer Märtyrer war in den schwarzen Marmor graviert.
    Vol. Jim O’Leary
    1937–1981
    Im Kampf gefallen
    Ich sprach seinen Namen aus. Und andere.
    Die Liste war von zwei Silhouetten umrahmt: IRA-Soldaten mit erhobenem Kopf, die Hände auf die Kolben ihrer Gewehre gestützt, deren Läufe am Boden standen. Ich strich mit dem Finger über den Stein, um ihn zu hören. Als Kind hatte ich der alten Ulme und der großen Tanne meines Vaters gelauscht, die Hände an ihrer Rinde. Hatte die warmen schwarzen Steine des Kamins befragt und das fettige Kiefernholz, mit dem das »Mullin’s« getäfelt war. Und mich für einen Zauberer gehalten.
    Ich klingelte. Mike O’Doyle öffnete mir. Sah meine Tasche. Und nickte.
    »Ich komme«, sagte er.
    Er bat mich nicht hinein.
    Durch die geöffnete Wohnzimmertür hörte ich ihn telefonieren. Meine kleine Patentochter Abbie schaute durch einen Spalt im Vorhang. Sie musste auf dem Sofa knien. Sie sah mich, erkannte mich und winkte mir lächelnd zu.
    »Da ist Onkel Tyrone!«
    Ich konnte meinen Namen von ihren Lippen ablesen.
    Mike stand mit dem Gesicht zur Wand, den Hörer am Ohr. Mit einer Hand streifte er sich die Jacke über. Die Kleineklopfte mit dem Zeigefinger ans Fenster. Und bedeutete mir, dass ich hineinkommen solle. Ich schüttelte den Kopf. Nein, mein Schatz. Es ist

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