Rueckkehr nach River's End
Anhörung vor dem Bewährungsausschu ss hatte er tatsächlich geglaubt, daß man ihn freilassen würde. Sie, die anonyme Masse aus Gesichtern und Vertretern des Justizsystems, würde ihn ansehen und einen Mann erkennen, der seine Tat mit den besten Jahren seines Lebens gebüßt hatte.
Damals war er nervös und ängstlich gewesen, doch unter der Furcht hatte er eine naive, stille Hoffnung verspürt.
Dann hatte er Jamie und Frank Brady gesehen, und ihm war klargeworden, daß sie dafür sorgen würden, daß die Tür zur Freiheit für ihn verschlossen blieb.
Jamie hatte von Julie erzählt, von ihrer Schönheit und ihrem Talent, ihrer Liebe zu ihrer Familie. Davon, wie ein Mann das alles aus Eifersucht und Boshaftigkeit ausgelöscht hatte, wie er sein eigenes Kind in Gefahr gebracht und bedroht hatte.
Sie hatte geweint, als sie vor dem Ausschuss sprach, lautlos waren die Tränen ihre Wangen hinuntergelaufen.
Hinterher hatte er aufspringen und laut schreien wollen: »Klasse! Erstklassige Leistung!«
Statt dessen hatte er lautlos Gedichte rezitiert und war ruhig geblieben, sein Gesicht ausdruckslos, die Hände auf den Oberschenkeln.
Dann war Frank an der Reihe gewesen, der eifrige Cop, dem es um Gerechtigkeit ging. In erbarmungsloser Polizeiterminologie hatte er den Tatort und den Zustand der Toten beschrieben. Erst als er von Olivia sprach, davon, wie er sie gefunden hatte, hatten sich Emotionen in seine Stimme geschlichen.
Was um so wirkungsvoller gewesen war.
Olivia war damals neunzehn gewesen, dachte Sam jetzt. Er versuchte, sie sich als junge Frau vorzustellen - groß und schlank mit Julies Augen und ihrem scheuen Lächeln. Aber er sah nur ein kleines Mädchen mit hellem Haar, das vor dem Schlafengehen Geschichten hören wollte.
Als Frank ihn angesehen hatte, als ihre Blicke sich getroffen hatten, war ihm bewusst geworden, daß es für ihn keine Bewährung gab. Und daß sich dieselbe Szene Jahr für Jahr wiederholen würde.
Damals hätte er die Wut, die er empfand, am liebsten ausgespien. Dann war er in seiner Erinnerung auf Robert Frost gestoßen, hatte seine Zeilen im Geiste wie eine Waffe umklammert.
Doch meine Versprechen bleiben besteh'n, und bis ich schlafen kann, muss ich noch weit, weit geh'n.
In den letzten fünf Jahren hatte er seine Versprechen formuliert und sich genau ausgemalt, wie er sie erfüllen würde. Nun würde der Sohn des Mannes, der seine Hoffnungen zerstört hatte, ihm dabei helfen, sie zu verwirklichen.
Das war sein Verständnis von Gerechtigkeit.
Inzwischen war seit Noahs erstem Besuch über ein Monat vergangen, und Sam hatte schon befürchtet, daß er nicht mehr kommen würde, daß die Saat, die er so sorgfältig ausgestreut hatte, am Ende doch keine Wurzeln geschlagen hatte. Seine Pläne, seine Hoffnungen, die Versprechen, die ihn am Leben gehalten und seinen Verstand gerettet hatten, wären dann zerstört, würden nichts als den scharfen Nachgeschmack des Versagens zurücklassen.
Doch nun war er wiedergekommen, und Sam wurde in den schäbigen kleinen Raum geführt. Innenszene, Tag, dachte er, als sich die Tür öffnete. Action.
Noah ging zum Tisch, stellte seinen Aktenkoffer ab. Sam konnte riechen, daß er geduscht hatte. Er trug Jeans, ein weiches Baumwollhemd, schwarze Converse-Turnschuhe. In seinem Mundwinkel heilte ein kleiner Schnitt.
Sam fragte sich, ob ihm wohl bewußt war, wie beneidenswert jung, gesund und frei er war.
Noah nahm sein Aufnahmegerät, einen Block und einen Bleistift aus dem Aktenkoffer. Als die Tür hinter seinem Rücken ins Schloss fiel, warf er Sam eine Schachtel Marlboro und ein Streichholzbriefchen zu.
»Ich wusste nicht, welche Marke Sie rauchen.«
Sam tippte auf die Schachtel und lächelte ironisch. »Hier drinnen ist eine wie die andere. Am Ende bringen dich alle um, aber schließlich lebt niemand ewig.«
»Die meisten Menschen wissen nicht, wann oder wie es sie erwischt. Wie fühlt man sich, wenn man zu den Menschen gehört, die es wissen?«
Sam tippte weiter auf die Schachtel. »Ein Gefühl der Macht, jedenfalls wenn ich in Freiheit leben würde. Hier drinnen ist ein Tag wie der andere.«
»Bedauern?«
»Darüber, daß ich hier bin, oder daß ich sterben muss ?«
»Beides.«
Mit einem kurzen Lachen öffnete Sam die Zigarettenschachtel. »Das wäre eine lange Erklärung, für die keiner von uns beiden Zeit hat, Brady.«
»Nennen Sie mir kurz die wichtigsten Punkte.«
»Ich bedauere, daß ich nicht die gleichen
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