Rücksichtslos
unter einer zentimeter hohen Schneeschicht verschwunden. Schneeflocken tanzten durch die Luft.
Wann hat es angefangen zu schneien? Sie ging die Treppen hinunter und ließ die kalten Schneeflocken in ihren Handin nen flächen schmelzen. Schön. Sie zog den Schal enger um sich und die Kapuze ihres Wintermantels über den Kopf. Dann machte sie sich langsam auf den Heimweg. Langsam. Genau. Durch den plötzlichen Wintereinbruch versank Frankfurt nicht nur im Schnee, sondern auch in einer erzwungenen Lang samkeit. Glatt war es auf dem Gehweg nicht. Überall lag griffiger Schnee, sodass Katharina nicht ausrutschte. Während sie Schritt für Schritt vorwärtsstapfte, kamen ihr noch mal die letzten Worte in den Sinn, die sie Sandfordt an den Kopf geworfen hatte: „Irgendwo in diesem Ordner steckt der Hinweis, der uns zum Mörder führen wird.“ Hatte sie unbe wusst etwas gelesen, das sie zu dieser Aussage getrieben hatte, oder war lediglich der Gaul mit ihr durchgegangen? Aber was wäre, wenn … ? Auf alle Fälle würde sie am nächsten Tag noch einmal einen Blick in den Ordner werfen.
*
„ Komm mit!“
Karl zuckte zusammen. Er hatte nicht gehört, wie sein Boss den kleinen Raum betreten hatte.
„ Los. Trödel nicht rum!“
Karl stemmte sich aus dem Stuhl hoch, warf einen letzten Blick auf die Monitore und schlich mit eingefallenen Schultern durch die Tür. Er wusste, was auf ihn zukam. Das Zimmer der Brünetten war leer geblieben. Seine Schritte wurden langsamer, als er die Wendeltreppe in den Keller hinabstieg. Der große Mann vor ihm zeigte auf das Bett, das an der Wand des Raumes stand, in dem die Babys zur Welt kamen.
„ Versteck sie im Wald . Aber diesmal so, dass sie nicht sofort gefunden wird. Und das Ding dort nimmst du auch mit.“
Karl drehte den Kopf. Dort stand eine Plastikwanne. Den Inhalt konnte er nicht sehen. Doch er nickte. Dann ging er auf das Bett zu. Ein kurzer Blick ins Gesicht: Ja. Es war die Brünette. Und sie war tot. Er deckte sie auf. Sein Atem stockte. Das, was er sah, war neu für ihn. Bislang hatten die toten Frauen äußerlich immer unversehrt ausgesehen. Doch dieser hier hatte man den Bauch aufgeschnitten. Das Laken unter ihr war rostrot verfärbt. Ein undefinierter Laut entwich seiner Kehle. Eigentlich war es kein richtiger Laut, sondern vielmehr ein Krächzen.
„ Das Kind wollte auf normalem Weg nicht raus, deswegen musste ich einen Kaiserschnitt machen.“
Karl nickte und zuckte mit den Schultern. Dann zog er seinen Pullover aus, Handschuhe an und band sich die Metzgerschürze um, die an der Wand an einem Haken hing.
Nachdem er die Leiche in den extra dafür angeschafften weißen Kombi gelegt hatte, kehrte er wieder in den gefliesten Raum zurück, um die Plastikwanne zu holen. Karl ging davon aus, dass sich darin die Nachgeburt befand und erhielt den Schock seines Lebens, als er in der dunkelblauen Wanne ein Baby erblickte. Es lag zusammen gekauert auf der linken Seite. Das Gesicht war ihm zugewandt, seine Haut seltsam fahlblau verfärbt. Karl hatte noch nie ein Neugeborenes gesehen. Die jüngsten Kinder, mit denen er bislang Kontakt gehabt hatte, konnten alle schon laufen.
Wie zur Salzsäule erstarrt, stand er da. Er atmete ober flächlich und schnell. Dann pustete er in die Wanne hinein. Es erzeugte keine Reaktion bei dem kleinen Wesen. Und so langsam dämmerte es Karl, dass dieses Baby ebenfalls tot war. Ganz vorsichtig stupste er es mit dem Zeigefinger an. Dann etwas kräftiger, und schließlich legte er seine große Hand um die unheimlich kleine des Kindes. Die Handschuhe, die er trug, kamen ihm seltsam fehl am Platz vor. Er zählte erstaunt die Finger des Neugeborenen. Es waren sechs und sie waren steif und kalt. Was bedeutete, dass es schon seit einigen Stunden tot sein musste. Soviel wusste er mittlerweile. Nach etlichen Minuten schien Karl wieder zu sich zu kommen. Er schüttelte den Kopf. Dann nahm er die Wanne, trug sie ebenfalls zu dem hellen älteren Kombi und stellte sie neben die tote Frau, die er in dunkelgrüne Müllsäcke gesteckt hatte.
Also in den Wald . Sein Boss hatte ihm nicht gesagt, in welchen, und so fuhr er auf der A661 in Richtung Graven bruch. Dort fuhr er von der Autobahn ab und suchte sich einen Weg in den südlich dieser Ortschaft gelegenen Forst. Während der Fahrt hatte es angefangen zu schneien. Die hellen Flocken tanzten wie kleine Wesen wild vor der Windschutz scheibe, als er in den Wald fuhr. Es war noch heller Tag, doch
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