Rücksichtslos
darum, dass wir endlich den Abgleich der Fingerabdrücke erhalten. Gegebenenfalls wird Hagen sofort wieder verhaftet. Und ihr anderen wisst, was ihr zu tun habt. Obwohl – blöde Feiertage. Da arbeitet eh kaum jemand.“ Sie stürmte aus dem Besprechungsraum und holte ihren Parka und ihre Waffe. Wenig später düsten sie in Richtung Gravenbruch. Es nieselte und der Scheibenwischer lief auf Intervallschaltung. Der Schnee war vollständig von den Straßen verschwunden. Von unterwegs rief sie Philipp an, um ihm mitzuteilen, dass es spät werden würde.
„ Ist wieder etwas passiert?“ Er klang erschrocken.
„ Ja“, antwortete sie kurzangebunden.
„ Und Jürgen?“
„ Lass mich mit deinem Jürgen in Ruhe . Der befindet sich bereits seit gestern wieder in Freiheit.“ Sie legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und bereute im gleichen Moment, so barsch gewesen zu sein.
Bereits einige hundert Meter vom Fundort entfernt stand ein Streifenwagen und zeigte ihnen den Weg. Der Bereich war weiträumig abgesperrt. Hier im Wald lag noch Schnee oder vielmehr Schneematsch, sodass ihre Stiefel ruckzuck durchnässt waren. Katharina kämpfte sich mit ihren beiden Kollegen und dem Rechtsmediziner Pohl bis zu einem Dickicht vor. Sie hatte die Kapuze ihres Parkas etwas zurückgeschoben, um die Umgebung besser beurteilen zu können. Arnold, der junge schwarzhaarige Polizeifotograf, knipste unentwegt. Zilinski stellte die Spheron-Panorama kamera auf, mithilfe derer sie den Leichenfundort später virtuell begehen konnten. Anhand der Spuren im nassen Schnee konnten sie erkennen, dass hier schon viele Leute hin und her gegangen waren. Alles war zertrampelt. Vor einem großen, blattlosen Gestrüpp, dessen Zweige im Nieselregen geisterhaft bizarr wirkten, und einigen hohen Bäumen, sahen sie die Leichen liegen. Das heißt, die größere steckte noch überwiegend in zwei dunkelgrünen, teilweise schneebedeckten Plastiktüten, die nach oben und unten verschoben waren. Sie erkannten ein Stück nackten, offensichtlich blutverschmierten, Bauch und eine zierliche Hand. Neben dieser Leiche stand eine blaue Wanne, die zu Zweidritteln mit Schnee gefüllt war. Aus der weißen Masse tauchte geisterhaft das kleine Gesicht und der nach oben abgewinkelte Arm eines Babys auf. Augenblicklich schossen Katharina die Tränen in die Augen und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Auch ihre Kollegen wischten sich verstohlen einige Tränen weg. Solange sie auch schon bei der Kripo arbeiteten, ein totes Kind, noch dazu ein Neugeborenes, ließ niemanden kalt.
„ Na. Dann wollen wir mal.“ Pohl spornte sich mit ruhiger Stimme an, streifte Handschuhe über und ging als erstes zu der Kinderleiche. Er ließ das Baby in der Wanne liegen.
„ Ich untersuche es später genauer“, merkte er an. „Aber ich will Nichts, was sich eventuell in der Wanne befindet, mit dem Kind herausnehmen.“ Er schob den pappigen Schnee zur Seite.
„ Es ist ein kleiner Junge, äußerlich scheint er unversehrt zu sein. An jeder Hand hat er sechs Finger. Die Nabelschnur wurde fachmännisch abgeklemmt, was darauf schließen lässt, dass er nach der Geburt gelebt hat. Zumindest für kurze Zeit.“
Pohl stand auf und schob mit dem Handrücken seine Nickelbrille nach oben. In seiner ernsten Miene spiegelte sich auch eine gewisse Trauer.
„ Was bedeutet es, dass das Kind sechs Finger hat?“
„ Es gibt unterschiedliche Ursachen so einer Polydaktylie, sprich Vielfingrigkeit: spontane Mutationen, erblich bedingte Gendefekte aber auch Defekte im Rahmen von Syndromen wie beispielsweise einer Trisomie 13. Meistens ist so eine Vielfingrigkeit völlig harmlos.“
Aha. Alle d rei kamen näher, um das Baby zu betrachten. Es sah ganz friedlich aus. Wie lange es wohl tot sein mochte? Sie fragten Pohl.
„ Schwer zu sagen. Man muss die Kälte der letzten Tage mit den Nachtfrösten und der geschützten Lage hier im Wald in Betracht ziehen. Die Leichen könnten gefroren sein. Zumindest bei dem Baby bin ich mir da ziemlich sicher. Dann wird es schwer, den genauen Todeszeitpunkt festzulegen. Seit wann ist es so kalt?“
„ Vor zwei Wochen hat es mal ziemlich heftig geschneit. Seither ist es durchgehend kalt gewesen. Und es hat vor Weihnachten wieder geschneit.“, antwortete Alfred. „Wir überprüfen die Wetter situation.“
„ Ja. Tun Sie das.“ Damit beugte er sich über die größere Leiche und schnitt den oberen Müllsack der Länge nach auf. Katharina beobachtete es gebannt.
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