Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
unpassenden Gegenstände – ein Stoffbär auf einem Verstärker, ein Kinderxylofon neben seinem Erwachsenengegenstück, eine bunt bemalte Kerze als Briefbeschwerer auf einem Stapel Notenblätter – waren eine Goldmine für den Psychiater in mir, zumal mein Blick an einem vergrößerten Foto in der unteren linken Ecke einer ansonsten völlig leeren Pinnwand hängen blieb. Patsy mit Zöpfen und einem leichten Schielen lächelte breit zwischen den strahlenden Gesichtern ihrer Eltern. Die Nahaufnahme zeigte nur die Köpfe und ließ keine Rückschlüsse auf die Umgebung zu.
Als sie bemerkte, dass ich das Bild ansah, setzte Patsy eine weichere, wissendere Fassung des auf Film gebannten Lächelns auf. »Das war zwei Jahre vor ihrem Tod«, erklärte sie. »Wenn ich hier meine Songs schreibe, gibt es nur mich und sie. Und natürlich mein Hexenbrett.« Nach einer halben Sekunde Schweigen brach Patsy in Kichern aus. »Kleiner Scherz.«
Der Witz kam zur rechten Zeit, da er sich über einen Anspruch auf künstlerische Geisterbeschwörung lustig machte, bei dem einem Außenstehenden unbehaglich werden konnte. Doch das änderte nichts an der Suggestivkraft dieses Schreins für ihre Eltern, die beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie dreizehn war, und für ihre so plötzlich beendete Kindheit. Welche Rolle spielte der Verlust ihrer Eltern für die Entwicklung ihrer Psyche, und in welchem Ausmaß kam er noch immer in ihren Songs zum Ausdruck? Trotz des augenzwinkernden Umgangs mit ihrem Mystizismus und trotz der ironischen Bemerkungen, die sie im Folgenden machte, um den kindlichen Objekten jede ikonenhafte Bedeutung zu nehmen, deutete Patsys Komponierumfeld stark auf eine psychische Regression. Gleiches galt auch für ihre Vorgehensweise: »Ich falle in eine Art Trance«, meinte sie, als würde sie ihren Weg zur Arbeit beschreiben. Ich wartete auf eine nähere Erläuterung, doch vergeblich. Sie schien verblüfft über die eigene Offenheit. »Das klingt wahrscheinlich ziemlich idiotisch.«
Ich versicherte ihr das Gegenteil und fragte sie, wie sie ihr letztes Album geschrieben habe. Die Schallplatte war in erstaunlich kurzer Zeit entstanden. Bei den produktivsten Sessions hatte sie vier, fünf oder gar sechs Songs ausgehend von vagen Anfängen nahezu fertiggestellt. »Ich bin hier tagelang nicht rausgekommen.« Patsy deutete auf ein kleines Schlafsofa und die Tür zu einer Dusche in der Ecke. Offenbar war der Raum früher ein normales Zimmer gewesen, und ich fragte mich, ob hier eines Tages Patsys Kinder wohnen würden. Fürs Erste jedoch schien seine Funktion als schöpferische Oase unentbehrlich für ihre Produktivität. »Steven verwöhnt mich.« Liebevoll zupfte Patsy an den Ärmeln ihres blaubraunen Pullovers wie an der Hand ihres scheuen Ehemanns. Wahrscheinlich war es eher so, dass Steven ihr in einer Mischung aus Ehrfurcht und Verständnislosigkeit entgegenkam. Die Alchemie, die Gefühle in Lieder verwandelte, war für Männer wie ihn und mich eine fremde Kunst.
»Eigentlich erinnere ich mich kaum daran, wie ich es gemacht habe, wie mir die Sachen eingefallen sind«, beteuerte Patsy, als ich sie nach diesen Nächten intensiver Inspiration fragte. »Ich hab mich einfach wie ein anderer Mensch gefühlt … oder wie derselbe Mensch, nur viel jünger.« Egal, wie ernst sie diese Idee nahm – und je länger wir sprachen, desto schwerer war das zu erkennen –, für mich klang es so, als würde Patsy bei diesen Ritualen tatsächlich irgendeinen Kanal hektischer, fast halluzinatorischer Energie in ihrem Gehirn anzapfen.
Als Patsy eine zweite Flasche Wein öffnete (trotz ihrer schmächtigen Figur konnte sie trinken wie ein Rockstar, während mir schon ziemlich schwummerig war), wandelte mich ein klischeehaftes Bild an: die seltsame Verwandtschaft zwischen ihrem Genie und – als traditionelles Pendant – Neils Verrücktheit. Beide suchten Fantasiewelten auf und brachten von dort etwas mit: Nur dass Patsy wusste, wann der Besuch vorbei war, während Neil nicht fähig oder willens war, die Grenzen zwischen den beiden Regionen zu erkennen. Da er die Menschen nicht mit einer künstlerischen Berufung dazu verlocken konnte, ihn auf seiner Fantasiereise zu begleiten, versuchte er, sie mit Gewalt an Bord zu zerren. Wahnsinn war also, überspitzt ausgedrückt, Genie ohne Talent.
Angesichts ihrer nebelhaften Komponierweise war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass Patsy in der Lage war, ihren Songs so mühelos
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