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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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einen Sinn zuzuordnen wie Steven und Neil. Das bestätigte sich, als ich sie nach den Wurzeln ihrer einzelnen Texte fragte und dabei nicht zum ersten Mal meine Neugier mit psychiatrischem Interesse bemäntelte. Doch selbst bei »Night and Day«, dem Song, den ihr Mann so hoch schätzte, wollte sie sich nicht festlegen.
    »Ich würde nicht sagen, dass es da direkt um Steven geht. Ich meine, irgendwie natürlich schon, weil es wahrscheinlich eine Reaktion auf ein Gefühl ist, das er mir gibt – aber an irgendwelche Ereignisse als Inspiration kann ich mich nicht erinnern. Im Grunde drehen sich diese Stücke um nichts Bestimmtes. Es sind einfach nur Songs.«
    Ich wünschte mir, dass Neil und Steven das gehört hätten, doch dann nahm ich den Wunsch schnell wieder zurück. Für Steven, den beharrlichen Unterstützer, wäre es ein schwerer Schlag gewesen, und Neils Haltung war ohnehin so stark in ihm verwurzelt, dass ihn etwas so Banales wie die eigene Aussage der von ihm verehrten Sängerin sicher nicht erschüttert hätte. Wie Paulsons Literaturkritiker konnte er immer ins Feld führen, Bedeutungen entschlüsselt zu haben, die Patsys Bewusstsein verborgen blieben. Andererseits war zu diesem Zeitpunkt auch nicht auszuschließen, dass Patsy mir etwas vorenthielt – vielleicht sogar (obwohl ich es nicht glauben mochte), dass sie Neil doch geschrieben hatte. Als ich um der Offenheit willen diese Möglichkeit halb im Scherz erwähnte, zog ein amüsiertes Leuchten über Patsys Gesicht. »Das wäre witzig, oder? Wenn er nur deswegen glaubt, dass ich ihn ermuntere, weil es tatsächlich so ist!« Kurz blitzten ihre weißen Zähne auf, als sich ihre Lippen zu einem Lachen kräuselten. Das war nicht der hohle Versuch eines Krimiverdächtigen, sich über eine Anschuldigung lustig zu machen, sondern eine aufrichtige Regung, rein wie rieselnder Bach. Ich lachte mit, wenngleich ich mir nicht sicher war, ob dieser Witz nicht schon bald in sein Gegenteil umschlagen würde. Sie war zu heiter, Neil zu selbstbewusst, Steven zu angespannt. Ich hatte das Gefühl, dass hier nicht Patsy und Steven gegen Neil standen, sondern dass alle drei auf eigenen Gleisen dahinglitten, die sich nur gelegentlich annäherten und Funken warfen, die vor größeren Zusammenstößen in der Zukunft warnten.
    Da ich es in meiner Arbeit gewohnt war, viel mehr zuzuhören, als zu reden, war es neu für mich, mir noch mehr Gesprächigkeit von Patsy zu wünschen. An vielen meiner Patienten war eigentlich weniger dran, als man auf den ersten Blick denken mochte. Wie sehr sie sich auch um Verschrobenheit und Rätselhaftigkeit bemühten, durch die Patina der Verrücktheit schimmerte immer wieder die grundlegende Normalität ihrer Motive und Handlungen. Patsy hingegen ließ tatsächlich die »verborgenen Tiefen« erahnen, mit denen viele Leute hausieren gingen. Oder wenn sie nicht verborgen waren, dann zumindest nicht zugänglich für die Öffentlichkeit. Steven hatte mich gebeten, sie im Auge zu behalten, und inzwischen brannte ich darauf, das Beste aus diesem Auftrag zu machen. Als sie kurz ihr Konzert am nächsten Abend in Chicago erwähnte, bot ich ihr an, dort zu sein. Die Aussicht, sie ohne die beiden Männer zu sehen und zu hören, deren konkurrierende Ansprüche solche Spannungen erzeugten, beschäftigten mich den ganzen folgenden Tag. Als mir Simon Stacy die Bandaufnahme einer Konsultation zum Anhören gab, legte ich stattdessen ihr Album auf und konnte mich nur mit Müh und Not durch die anschließende Besprechung schummeln.
    Als ich im Club eintraf, hörte ein kleiner Kreis von zu früh Gekommenen der Vorgruppe zu, einer alternden Countryband mit Karohemden und gewaltigen Bärten. Nach und nach tröpfelte ein gemischtes Publikum in den kellerartigen Raum, coole junge Stammgäste und (zu meiner Erleichterung) auch Leute meiner Generation. Wenige Minuten vor dem Beginn von Patsys Auftritt fiel mir ein Mann auf, der so nah an der Bühne stand, dass er nur die Arme hätte ausstrecken müssen, um ein paar Noten auf dem Klavier zu spielen. Kettenrauchend fuhr er sich immer wieder mit den Fingern durch sein Haar, das so kurz war, dass sich das gar nicht lohnte. Er sah aus wie ein Cafékomparse aus einem französischen Film. Ich weiß nicht, warum mich Neils Anblick überraschte – statistisch war die Anwesenheit bei einem Konzert Patsys bei niemandem so wahrscheinlich wie bei ihm. Jedenfalls war ich verunsichert und empfand große Anspannung für meine neue Bekannte,

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