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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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die Nachricht, dass sich seine Frau einen liebestollen neuen »Freund« zugelegt hatte.
    Inzwischen verstanden wir uns so gut, dass ich ihm die Textinterpretation vorschlagen konnte, die Neil bereits hinter sich hatte. Nach einer tastenden Aufwärmphase bewies Steven viel Gespür und sogar Leidenschaft bei »Night and Day« und »Nothing Means Anything«, den beiden Songs, in denen sich Patsy unterstützend beziehungsweise niedergeschlagen an einen abwesenden Geliebten wendet. Wie die Zusammenfassungen zeigen, war er wohl zurecht bewegt von der Art und Weise, wie sie ihn ansprach, und benannte Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, die Patsy »inspiriert« hatten. Bei einem schwerfälligen Mann wie ihm wirkte das blumige Wort eher seltsam und fast beunruhigend, doch Steven hatte sich in Fahrt geredet und erging sich mit wachsender Zuversicht über das Werk seiner Frau. Wenn er auf verworrene Begriffe und unscharfe Bilder stieß, versuchte er den verständlicheren Textstellen eine Bedeutung aufzudrücken und den Rest als nebensächlich abzutun. »Bei diesen Teilen bin ich mir nicht ganz sicher«, hieß es dann, »jedenfalls läuft es drauf raus …«
    Und worauf es hinauslief, war in Stevens Augen ganz klar. Für ihn war Patsys Album die Chronik einer jungen Liebesbeziehung. Für jemand anderen war in diesen zarten Gedichten kein Platz. Und daraus konnte man Steven schlecht einen Vorwurf machen.
    Ich versuchte es mit ein paar allgemeineren Fragen, die berufliche mit privater Neugier vermischten: wie intensiv Patsy und er über ihre Texte diskutierten und ob er ihr jemals eine Verbesserung oder einen Reim vorgeschlagen hatte. 9 Diese Fragen lösten einen jähen Stimmungswandel bei Steven aus. Er senkte den Blick und schob übertrieben zerstreut die Zeitungen auf dem Couchtisch hin und her. Ich begriff, dass ihm die persönlichen Enthüllungen sehr schwergefallen waren und dass er das jetzt mit erneuter Schroffheit kompensierte. Es war an der Zeit, dass ich mich verabschiedete.
    Ich nahm nicht nur ein klareres Bild davon mit, was Patsy an diesem ernsten, von Liebe durchdrungenen Mann anzog, sondern auch davon, an was für einem seidenen Faden seine Selbstachtung hing. Ich machte mir Sorgen, dass Patsys Gatte psychiatrische Hilfe genauso dringend brauchte wie sein Rivale, und dass eine nervenaufreibende Aufgabe auf mich wartete, wenn ich die Auseinandersetzung zwischen ihnen unblutig beenden wollte.
    Am Abend ließ ich mich vor meinem Plattenspieler nieder – genau das gleiche Modell wie das meines Vaters, das er mir zu Weihnachten geschenkt hatte, um den Beginn meines neuen Lebens in Amerika zu würdigen. Es war meine erste Gelegenheit, die Songs zu hören, die zu diesem Wirbel geführt hatten. Die Musikkritik hatte viele lobende Worte für Patsys Album gefunden – von »ein Kaleidoskop kluger, karger Hymnen« bis zu »eine betörende Sammlung, deren Brillanz aufhorchen lässt«. Vielleicht weil ich einen schweren Tag hinter mir hatte (ein kleiner autistischer Patient hatte mir ein Spielzeug-Feuerwehrauto direkt ins Auge geworfen, und Richard hatte im Fernsehen begeisterten Applaus für einen Witz erhalten, den ich ihm vor mehreren Jahren erzählt hatte), übte die Musik sehr bald eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Das Beeindruckendste war das breite Spektrum an Stimmungen, die alle mit der gleichen Kraft dargeboten wurden. Auf »Something Bad Would Do You Good« war Patsy echt verführerisch: eine helle Stimme tanzte über einer einfachen, frechen Melodie, die mir tagelang nicht mehr aus dem Kopf ging. Auf »Nothing Means Anything« und einem ähnlich düsteren Stück mit dem Titel »Coping Well« klang sie verletzlich, ohne in die rehäugigen Manierismen weniger subtiler Sängerinnen zu verfallen; die von einer Slide-Gitarre getragene Stimmung war schwermütig, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Doch das Herzstück der Platte war der Song »Night and Day«, mit dem sie Steven Mut zusprach und den sicher nicht nur Neil für sich in Anspruch nahm. Lyrisch war es eines ihrer weniger gelungenen Stücke, doch weil der Zuhörer hier nicht so auf die Worte achten musste, packte ihn die emotionale Kraft der Musik umso stärker. In meinem Nacken erhoben sich die Härchen, und ich musste an zu Hause denken.
    Bei der Vorstellung, dass die Frau, der diese sinnliche Stimme gehörte, jetzt eine Klientin von mir war, wurde ich ganz aufgeregt. Wer wusste, wozu das führen konnte? Vielleicht würde sie ein Duett mit

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