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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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die bestimmt hinter der Bühne saß und auf das Gebrodel des Publikums lauschte. Wie ein Stromschlag schoss mir die Nervosität vom Magen in die Beine. Je mehr Zuschauer hereinströmten, desto schwerer fiel es mir, Neil nicht aus den Augen zu verlieren, doch gelegentlich warf die Glut der Zigarette ein kurzes Flackern über sein Gesicht, das weniger vor Aufregung und Verehrung strahlte als vor Stolz. Wenn Steven in diesem Moment mit seinen krampfhaft hochgezogenen Schultern und der Miene eines Verfolgten eingetreten wäre, der sich vor einem Angriff von hinten fürchtet, dann hätten wohl nur die wenigsten erraten, wer von den beiden der Ehemann war und wer der Rivale.
    Gewiss war ihr Neils Anwesenheit nicht entgangen, doch Patsy war viel zu routiniert, um andere Gefühle zu zeigen als die aus ihren Songs. Ob sie unter donnerndem Applaus und lautem Jubel ungekünstelt auf die Bühne schritt und sich ans Klavier setzte oder hinunter in die durstig nach oben gewandten Gesichter sang, sie strahlte mit jeder Bewegung die Sicherheit eines Stars aus, und meine Unruhe verflog. Später erzählte sie mir, dass sie fast den ganzen Abend Angst gehabt hatte, vor allem bei den langsamen, leisen Stücken, bei denen ihre Stimmbänder bebten wie Harfensaiten – doch davon war ihr nicht das Geringste anzumerken. Sie live zu erleben, nachdem ich ihre Platte gehört hatte, war wie das Ersteigen eines Bergs, den man bisher nur von einer Postkarte gekannt hat. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie viel Freude Dad an diesem Konzert gehabt hätte. Damals hatte ich immer vor, mit ihm einen Auftritt von Joni Mitchell auf einer ihrer sporadischen Tourneen zu besuchen, doch irgendwie fand sich erst Jahre später ein geeigneter Termin, und als ich alles organisierte, war er schon todkrank.
    Patsys Musik entführte mich in ein nebelhaftes Reich, in dem Gedanken ziellos aufblitzten und wieder verschwanden. Bei den schlichten Worten » The paths you didn’t tread/The things you never said/The chances you have wasted/Success you never tasted « schnürte es mir die Brust zusammen, als würde mein Herz gleichzeitig durchgeprügelt und gestreichelt; ich war mir sicher, dass Patsys Worte nur mir galten, als wären wir allein im Raum. Und genau in dem Moment, als ich diesen Eindruck hatte, wandte sie den Kopf, und unsere Augen trafen und verfingen sich in einem funkensprühenden Blick, den sie fünf, zehn Sekunden oder noch länger hielt. Sie füllte mein Gesichtsfeld völlig aus wie eine extreme Nahaufnahme, dann schwenkte das Objektiv, und Neil kroch ins Bild. Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er sang ihre Worte mit, sang sie ihr entgegen. Als das Stück zu Ende war, stand er reglos wie eine Statue da, den Kopf zur Bühne erhoben wie ein dankbarer Bittsteller. Einen verwirrenden Moment lang fühlte ich mich ihm verbunden, doch zugleich noch isolierter, als mir der unglaubliche Solipsismus unserer Reaktion auf den Song bewusst wurde. Jeder von uns hatte ihn als geheimen Dialog mit Patsy erlebt, so wie alle nächtlichen Spaziergänger sehen können, wie ihnen persönlich die Sterne folgen.
    Verstohlen blickte ich mich um und erkannte, dass viele andere Zuschauer, wenn auch nur kurz und flüchtig, von der Illusion eines Pakts mit Patsy fasziniert worden waren. Wenn schon ich, der ich praktisch ein Fremder war, diesem Zauber so leicht erlag, war es wohl kein Wunder, dass Steven aus diesen Songs seine Suche nach Selbstachtung heraushörte und dass Neil jedes Wort in »Something Bad Would Do You Good« als Einladung zum Ehebruch verstand. Der Unterschied zu mir war natürlich Neils Drang, die Fantasie zur Realität zu machen. Doch als Patsy ihren Auftritt mit einem feurigen Stück namens »I’ll Count You In« beschloss, musste ich an die Kluft denken, die man so eifrig zwischen normaler und wahnhafter Mentalität wahrnehmen möchte; in Momenten wie diesem schien sie mehr wie ein schmaler Spalt, den man mit einem einzigen erregten Schritt überqueren konnte.
    Die Menge quoll durch den engen Ausgang vorbei an einem massigen, aufdringlichen Türsteher, der mit seinem Gegröle – »Einanachdemandern, einanachdemandern« – jedes Nachdenken über das Konzert im Keim erstickte. Ich schlüpfte um die Ecke zu den Garderoben, die unbewacht waren. Irgendwo lauerte garantiert Neil, um sich Patsy zu nähern. Ich hätte den bulligen Rausschmeißer lieber hier hinten gesehen. Es herrschte eine unheimliche Stille, nur zwei leere Tourbusse warteten

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