Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
vollständige Genesung attestiert wurde, blieb unklar, inwiefern ihr Gedächtnis gelitten hatte. Ihre Erinnerungen an das frühere Leben blieben lückenhaft. Niemand konnte mit Sicherheit feststellen, was die Ursache war: ihre Kopfverletzungen, die Verdrängung von Erinnerungen an die verlorenen Eltern, die fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Therapeuten oder (was am wahrscheinlichsten war) eine Kombination all dieser Faktoren. Ob nun willentlich oder als Folge ihrer Verletzungen, jedenfalls blieb die Erinnerung an die Briefkastentradition begraben im »mentalen Papierkorb«, wie Graham Rice das nennt 10 , einem Gedächtnispool, der zwar noch funktionsfähig, aber im Alltag nicht zugänglich ist. Das Problem war, dass Patsy gelegentlich Vorstöße in Bereiche außerhalb des Alltags unternahm.
Die Phasen der Trance, in die sich Patsy beim Schreiben ihres Albums versenkt hatte, setzten anscheinend einen Prozess der »Entdrängung« in Gang, bei dem sich die Erinnerungen lösten und halb gestaltet zurück in ihr Bewusstsein glitten. Der Rückzug in ihre psychische Vergangenheit war ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeitsmethode, doch er machte sie auch empfänglich für unfreiwillige Reminiszenzen.
Patsy hielt den Blick immer noch von Steven abgewandt, als mir diese Erklärungen durch den Kopf gingen. »Und eines Tages hat Neil das Gleiche über meine Songs gesagt, als wir draußen geredet haben. ›Ich würde mir gern ein paar von den Songs anschauen‹, das waren seine Worte, und …«
Damit war ein tief vergrabener Impuls geweckt worden, und so spazierte sie in den frühen Stunden eines Komponiermorgens wie eine Schlafwandlerin hinaus zum Briefkasten (der sich nicht an der Innenseite der Tür befand, sondern am Ende der Einfahrt, doch das spielte offenbar keine Rolle) und hinterließ dort den Song, den sie gerade geschrieben hatte: »Night and Day«.
»Ich schwöre, dass ich mich bis gerade eben nicht mehr daran erinnert habe. Wie wenn ich hypnotisiert gewesen wäre. Aber als Sie den Kasten erwähnt haben, ist es mir wieder eingefallen … Möglicherweise habe ich von … allen Songs Kopien in den Briefkasten gesteckt, aber ich weiß es nicht mehr, sonst hätte ich natürlich damit aufgehört …« Ihre Stimme krächzte jetzt vor Zerknirschtheit. Langsam kehrte sie in die unbeständige Gegenwart zurück, und ihr Blick wechselte hilfesuchend zwischen uns beiden hin und her.
»Es ist durchaus möglich, dass sich Erinnerungen unter bestimmten Umständen aus der Verdrängung lösen.« Ich versuchte, meine Unsicherheit mit terminologischem Aufwand zu überspielen.
»Ich mach mal Kaffee«, meinte Steven.
»Zum Beispiel bei Anfällen von Schläfenlappenepilepsie …«
»Ehrlich, Steven …« Patsy brach mitten im Satz ab, weil es hier nicht um Ehrlichkeit ging.
»Gib mir einfach eine Minute.« Steven stand auf und schüttelte sanft den Kopf, ehe er in die Küche verschwand.
So hatte ich Gelegenheit, Patsy mit verwirrter Faszination zu mustern. Mit glasigen Augen starrte sie ins Leere, vereinzelte Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Hände zitterten. Ich schlang den Arm um sie und drückte unbeholfen ihre Schulter. Sie schien es gar nicht zu bemerken, und ich nahm den Arm wieder weg, ehe Steven zurückkam.
Natürlich tat sie mir leid, doch mir war nicht klar, ob sich diese bizarre Geschichte tatsächlich aus der Erinnerung speiste oder vielleicht doch aus der Fantasie. Das Erzählte passte zwar genau zu dem geheimnisvollen Schleier, der über ihrer Kunst lag, doch es warf auch Fragen auf. Ich hatte selbst erlebt, was für eine perfekte Bühnenkünstlerin Patsy war. Völlig mühelos konnte sie in eine Rolle schlüpfen und sie danach wieder ablegen. War es denkbar, dass sie
in der Kindheit dieser Briefkastengewohnheit gefolgt war,
nur um sie nach dem Autounfall zu vergessen,
dass sie sie unter dem Vorzeichen unterbewusster Anstrengung wiederbelebt
und sie dann bei Tagesanbruch wieder vergessen hatte?
Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr trotz meiner erheblichen Zweifel zu glauben; bei einer anderen Schlussfolgerung hätte ich meinen Platz gleich für einen Eheberater räumen können. Meinem Instinkt vertrauend, unterstellte ich, dass die Kopfverletzungen ihr das Erbe einer leichten Schläfenlappenepilepsie hinterlassen hatten. Die Anfälle führten dann jeweils zu einer Art »nostalgischen Inkontinenz«, wie es bei Oliver Sacks heißt:
Wir nehmen an, dass unsere Patientin (wie jedermann) über
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