Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Staunens erstarrten.
Patsy verengte die großen Augen, als wäre das Papier eine Beleidigung. Stevens fragender Blick wanderte von mir zu ihr. Erklärend fügte ich hinzu: »Er meint, er hat es aus dem Kasten.«
Den Wandel, den diese Worte auf Patsys Gesicht auslösten, werde ich nie vergessen. Sofort verschwand der Schleier der Empörung und wurde durch den Ausdruck eines Menschen ersetzt, der gewissenhaft den Einzelheiten eines Traums nachspürt und dabei feststellt, dass er den Übergang vom Traum zu echter Erinnerung nicht dingfest machen kann. Eine schiere Ewigkeit lang fixierte Patsy mit äußerster Konzentration einen Punkt auf dem Couchtisch und murmelte vor sich hin. Hilflos und verlegen im Beisein des jeweils anderen sahen Steven und ich zu, während die Uhr vorwurfsvoll tickte. Stevens Blick wusste nicht, wen er anklagen sollte, und sein Arm löste sich unsicher von Patsys Schulter. Das Schweigen wurde so drückend, dass ich mich fragte, ob ich nicht besser gehen sollte. Doch die Andeutung eines Flehens in Stevens Augen bewog mich zum Bleiben. Und natürlich auch die blanke Neugier.
Nach einer Weile – in Wirklichkeit waren wohl nur zwei oder drei Minuten vergangen – schaute Patsy mit einer neuen, unschuldigen Verletzlichkeit auf. »Also schön, das klingt jetzt sicher blöd, aber vielleicht hab ich es ihm wirklich irgendwie gegeben.«
»Was?«, riefen wir einhellig. Kein weiteres Wort kam aus Stevens offenem Mund.
»Nicht absichtlich, ich meine … nicht bewusst«, setzte Patsy hinzu. »Vielleicht täusche ich mich, aber …«
»Ich will diesen Quatsch nicht hören!«, brach es plötzlich aus Steven hervor. Schwerfällig stand er auf und wischte die Hand seiner Frau weg. Dann ging er mit ungewohnter, hektischer Wortgewandtheit auf sie los: »Wie lange hast du hinter meinem Rücken Spielchen getrieben? Hasst du mich wirklich so? Hättest du es mir nicht einfach sagen können, wenn es so ist?« Steven gefiel sich offenbar in der Rolle des Gekränkten und steigerte sich in null Komma nichts in seine Emotionen hinein, die ihn von einem Extrem zum nächsten rissen. Patsy wand sich verzweifelt auf ihrem Platz und wandte sich mir hilfesuchend zu, damit ich die Lawine stoppte.
»Steven, lassen Sie sie ausreden«, befahl ich. Das Überraschungsmoment war auf meiner Seite, und er verstummte zumindest fürs Erste. Nachdem ich Patsy wieder zurück ins Gespräch gelotst hatte, wartete ich darauf, dass sie sich rechtfertigte. Steven musterte mich wie einen Verräter, doch schon bald galt seine Aufmerksamkeit der bebenden Stimme seiner Frau. Er liebte sie noch immer, doch es war eine bedürftige Liebe: Ich konnte nur hoffen, dass ihn die Erklärung zufriedenstellte.
»Daran habe ich mich schon lange nicht mehr erinnert, aber als ich klein war, hab ich immer Sachen geschrieben, Gedichte und Geschichten und einfach … ganz normale Sachen, wie das jeder macht.« Nach diesem stockenden Beginn wartete sie vergeblich auf ein Nicken von ihrem legasthenischen Mann und ihrem ungeschickten Psychiater. Sie schilderte, dass ihr Vater – ein Verleger, an dessen Gesicht mit der Brille ich mich von dem Foto im Studio erinnerte – immer, wenn er seine Tochter bei der Arbeit sah, zu ihr sagte: »Das würde ich mir gern anschauen, wenn es fertig ist.« Mit der Zeit war für Patsy alles erst dann beendet, wenn ihr Vater einen Blick daraufgeworfen hatte, und als sie im Alter von acht oder neun Jahren ihre ersten Songs schrieb, legte sie sie ihm selbstverständlich auch zur Prüfung vor. Da sie oft noch nach ihrer Schlafenszeit arbeitete, machte sie es sich zur Gewohnheit hinauszuschleichen, wenn ihre Eltern schon im Bett waren, und ihr neuestes Werk in den Briefkasten auf der Innenseite der Haustür zu werfen, wo man es am Morgen finden konnte: ein kindlich eigenwilliges Vorgehen, das sich allmählich zu einer offiziellen Regelung verfestigte. »Seit ich acht oder neun war, habe ich jeden Song, den ich geschrieben hatte, in den Briefkasten gesteckt.« Auf Patsys Gesicht spiegelte sich die Erinnerung. »Natürlich waren sie meistens noch wach. Sie haben gehört, wie ich zur Tür und wieder zurück geschlichen bin. Aber das gehörte zum Spiel. Dann …«
Dann passierte der Unfall, der ihre glückliche Kindheit beendete: ein Frontalzusammenstoß zwischen dem Auto ihres Vaters und einem schweren Lastwagen, der sie nicht nur zur Waise machte, sondern ihr auch ernste Kopfverletzungen zufügte. Obwohl ihr letztlich eine
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