Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
einem Grinsen unterstrich Neil die Machtverschiebung in unserem Gespräch.
»Woher haben Sie das?«
»Ich sag Ihnen doch, sie schickt es mir. Auch der Postmann kriegt Post.« Mit einem trockenen Lachen streckte er die Hand aus, um das Blatt wieder an sich zu nehmen.
Mir schwirrte der Kopf, und ich überließ meinen nächsten Schritt dem Instinkt. »Patsy hat gesagt, sie will das wiederhaben.« Ich drückte das Papier an die Brust, als er danach greifen wollte. Seinem ungläubig zerknautschten Gesicht war anzumerken, dass er protestieren wollte, doch da fuhr ich bereits fort: »Ich soll mich vergewissern, dass Sie gut darauf aufpassen.«
Mehrere angespannte Sekunden verstrichen, als Neil in meinem Gesicht forschte. Mir war klar, dass meine List eher mager war, und ich überlegte vorsichtshalber bereits den nächsten Schachzug.
Doch zu meiner Erleichterung nickte er. »Okay. Patsy mag Sie anscheinend … also gut. Wahrscheinlich ist es einfacher, wenn nicht ich es ihr gebe, sondern Sie.« Er schenkte mir ein fast verschwörerisches Lächeln. Das Paradox, dass Patsy und ich uns eigentlich nur kannten, weil Neil als Bedrohung für sie wahrgenommen wurde, schien ihn nicht weiter zu stören.
»Sagen Sie ihr, sie soll erst wieder schreiben, wenn es sicher ist.« Beifällig beobachtete er, wie ich das Blatt bewusst respektvoll einsteckte. »Und wenn sie mir den Song zurückgeben will, soll sie ihn einfach wie üblich in den Kasten stecken. Ich komme morgen früh vorbei.« Ehe die letzten Worte so richtig zu mir durchgedrungen waren, war er verschwunden. Als ich endlich hinaus auf die Straße trat, war in dem lärmenden Gewühl der Menschen vor den Nachtlokalen nichts mehr von ihm zu sehen.
Auf der Heimfahrt hätte ich vor Neugier fast einen Unfall verursacht, weil ich immer wieder auf die verblassten Worte von Patsys Song starrte. Bisher kannte ich ihre Handschrift nur von einer kurzen Notiz mit ihrer Adresse und Telefonnummer, und als ich diesen Zettel zum Vergleich aus den Tiefen einer überfüllten Tasche fischen wollte, wäre ich fast gegen einen Baum gekracht. Als ich ihn endlich fand und neben das Notenblatt auf meinem Knie legte (das Auto stand inzwischen), blieb kein Raum mehr für Zweifel: Wenn das nicht Patsys Schrift war, dann war Neil ein Weltklassefälscher.
Aber wenn das Notenblatt keine Fälschung war, sondern ein kostbares Unikat, wie um alles in der Welt hatte er es dann in die Finger bekommen? Mit einem Schlag hatte Neil den Fanstatus hinter sich gelassen und konnte den Anspruch untermauern, der Adressat des Songs zu sein. Das Notenblatt war in der Tat wie ein persönlicher Brief. Schwer zu glauben, sicher, doch noch schwerer war einzusehen, wie er es erhalten haben sollte, wenn nicht von Patsy. Ein Einbruch, ohne Spuren zu hinterlassen? Oder konnte Patsy Neil das Notenblatt irgendwie gegeben haben, ohne sich daran zu erinnern? Das war nahezu undenkbar, da der Song zu den jüngsten Werken gehörte, die Patsy bei ihren abgeschiedenen Studiosessions komponiert hatte. Im Licht des harmlos aussehenden Blatts auf meinem Beifahrersitz war Patsys Behauptung, dass sie Neil nie ermuntert hatte, nicht mehr haltbar. In meinem Kopf drängten sich die Fragen, merkwürdig vermengt mit Bruchstücken von Musik. Am nächsten Abend wollte ich Antworten hören.
Steven war gerade aus New England zurückgekehrt, und er begrüßte mich mit sichtlichem Widerwillen; als er mir einen Drink anbot, tat er es in einem derart resignierten Ton, dass ich es nicht über mich brachte anzunehmen. Obwohl sein Wunsch, mit Patsy allein zu sein, nur natürlich war, irritierte mich seine abweisende Art nach meinen (zugegeben unbeholfenen) Versuchen, seine Frau zu schützen. Er hatte den bärenhaften Arm besitzergreifend um sie geschlungen, und als ich ihr zu ihrem Auftritt gratulierte, drang sein schiefes Triumphlächeln auf einmal durch den Panzer meiner Professionalität. Ich würde lieber berichten, dass es mir nicht in erster Linie darauf ankam, diesen Kokon häuslicher Zufriedenheit zu erschüttern – damals betrachtete ich meine Ledigkeit noch als vorübergehenden Zustand –, doch stattdessen erwähnte ich nicht ohne eine gewisse Schadenfreude meine Unterhaltung mit Neil. Als Steven sich laut fragte, wie man sich »mit so einem Spinner überhaupt abgeben« konnte, antwortete ich forsch: »Jedenfalls hat er was bei mir abgegeben.« Mit diesen Worten reichte ich ihnen das Notenblatt, bei dessen Anblick sie zu einem Tableau des
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