Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
eine fast unendliche Zahl von »schlummernden« Gedächtnisspuren verfügt, von denen einige unter besonderen Bedingungen, vor allem bei starker Erregung, reaktiviert werden können. Diese Spuren, so glauben wir, haben sich … unauslöschlich in das Nervensystem eingegraben und können unbegrenzte Zeit in einem Ruhezustand verharren. 11
    Nachdem ich es dem inzwischen ruhigeren Steven und der leicht trotzigen Patsy überlassen hatte, miteinander Frieden zu machen, studierte ich in der Nacht eine Masse von Material über das Thema Temporallappenepilepsie (überwiegend in Registerform). Keine Frage, Patsy entsprach dem Krankheitsbild: die Kopfverletzungen, der Lebensstil, die überschäumende Fantasie. All diese Faktoren wirkten zusammen, um kleine Löcher in die mentalen Schutzschirme zu bohren, die die Vergangenheit von der Gegenwart trennten, und ein gelegentliches Durchsickern in beide Richtungen zu ermöglichen. Das traditonelle Paar Genie und Wahnsinn lagen so nah beieinander, dass sie in ihrem Kopf die Kleider tauschen konnten. Verständlicherweise war ich nicht unbedingt scharf darauf, Steven diese Zusammenhänge zu erklären. Doch zu meiner Erleichterung war er anscheinend zu einem ganz ähnlichen Schluss gelangt, als ich am nächsten Tag wiederkam.
    »Ich habe gestern überreagiert«, bekannte er. »Ist eben nicht ganz leicht, sich da, na ja, reinzuversetzen.«
    Jede Feindseligkeit war wie weggeblasen. Offenbar bereitete sich Steven innerlich schon auf die permanenten Unsicherheiten eines nicht-kreativen Partners vor. Um der Liebe willen konnte er Patsys unbewusste Ermunterungen an einen Bewunderer dulden und sich mit dem Wissen abfinden, dass ihr Verhalten dank ihrer Vergangenheit auch weiterhin unberechenbar sein würde. Nur eine Sache machte ihm wirklich Sorgen, wie er mir gestand, als seine Frau nicht im Zimmer war. »Das ist jetzt bestimmt kleinlich, und ich weiß, die Songs sind nur Songs und so weiter.« Kaum hatte er das Thema angeschnitten, wurde es ihm anscheinend schon zu viel. »Aber bestimmte Stücke … die Vorstellung, sie könnte sie mit seinem Bild im Kopf geschrieben haben …«
    Ich versicherte ihm, dass der Briefträger mit seinem Satz rein zufällig diese Erinnerung und die entsprechende Reaktion bei ihr ausgelöst hatte, doch es war nicht zu übersehen, dass der Songtext, in dem Steven sich wiedererkannt hatte, in seinen Augen für immer eine seltsame Färbung angenommen hatte. Die Erkenntnis, dass er keinen dieser Songs mit Sicherheit für sich beanspruchen konnte, war ein persönlicher Beleg für die Wahrheit von Paulsons Theorie über den Tod des Autors: dass kein Versuch der Sinnzuschreibung mit Sicherheit richtig war. Für einen Mann, der so sehr von der Anerkennung anderer abhing und der sich an den Text von »Night and Day« geklammert hatte wie an eine offizielle Bestätigung seiner besonderen Bedeutung für Patsys Leben, war das eine bittere Pille. Doch vernünftig betrachtet hatte Steven auch so noch genug Grund zum Stolz. »Es spielt gar keine Rolle, ob sie beim Schreiben konkret an Sie gedacht hat«, erklärte ich ihm. »Entscheidend ist doch, dass sie es ohne Sie nie geschafft hätte.«
    Auf diese Feststellung hin erschien ein breites Lächeln auf Stevens Gesicht, vielleicht sogar das erste in einem Gespräch mit mir. »Danke, Dr. Kristal.«
    Ich hatte ihm gesagt, was er hören wollte: die beste Waffe eines Seelenklempners. Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, ob es stimmte, und musste erkennen, dass ich keine Ahnung hatte.
    Noch blieb das Problem, was mit Neil passieren sollte, nachdem sich erwiesen hatte, dass sein Wahn durchaus nicht so unbegründet war wie ursprünglich angenommen. Schließlich hatte ich den Einfall, nach seinen Regeln zu spielen und die Beziehung genauso zu beenden, wie sie begonnen hatte. Selbst auf die Gefahr hin, Steven zu provozieren, schlug ich vor, dass Patsy einen Song für Neil schreiben sollte. So entstand im Wohnzimmer »Distance Makes the Difference« – das Gemeinschaftswerk eines Teams, das so nie wieder zusammentreffen würde: Patsy auf dem Sofa mit einem Notizbuch auf dem Schoß; Steven neben ihr zunächst stumm, aber immer lebhafter beteiligt; und ich, der das Ganze überwachte wie ein Produzent. Die Methode war sicherlich prosaischer als sonst bei Patsy – statt Trance und Flashbacks ernste redaktionelle Diskussionen zwischen zwei Männern ohne kreative Neigungen und die häufige Zuhilfenahme eines Reimlexikons –, doch mit dem

Weitere Kostenlose Bücher