Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Unfall bei einer Probe herrührten, bei dem ein herabstürzender Burgturm beinahe Macduff geköpft hätte. Aber Julian argwöhnte, dass das nur eine Ausrede war für ein Benehmen, das schon seit einem frühen Stadium der Produktion Unregelmäßigkeiten gezeigt hatte. Obwohl sie eine erfahrene Schauspielerin war, die keine andere Unruhe kannte als den permanenten Adrenalinrausch des Bühnenlebens, hatte sie schon bald vor und nach der Aufführung einen zerstreuten Eindruck gemacht. Entweder spielte sie völlig lustlos, oder sie wirkte im Rampenlicht so verloren wie eine Highschool-Mimin.
Trotz meiner Vorfreude auf die Begegnung mit Lily musste ich zugeben, dass mich die Schilderung des kleinen Zusammenbruchs einer überdrehten Schauspielerin bei Weitem nicht so inspirierte wie die Aussicht, das psychische Leben einer aufstrebenden Sängerin zu erforschen. Doch die Geschichte von Patsy DiMarcos kreativem Schlafwandeln hatte mich empfänglich gemacht für Fälle, bei denen anfangs noch nicht alle Stichpunkte in Erscheinung traten, sondern zum Teil erst ausgegraben werden mussten aus Verstecken, die selbst dem Patienten verborgen waren.
Zwanzig Jahre war es her, dass ich zur Gewalt gedrängt worden war von einer machthungrigen Ehefrau, gespielt von meiner Klassenkameradin Jennifer O’Hara (die durch einen seltsamen Zufall später einen echten Mörder heiraten sollte). Das Dumme war, dass eigentlich nicht ich Macbeth spielte mit Ausnahme gelegentlicher Proben: Ich war der Ersatz für Richard, und im Gegensatz zu Lily Ripleys glücklicher Zweitbesetzung viele Jahre später konnte ich nicht damit rechnen, durch Stimmungsschwankungen des Stars zu einem Auftritt zu kommen. Unsere Aufführungen beschränkten sich auf eine Woche, und Richard hätte wohl nicht einmal dann eine Panikattacke erlitten, wenn er gewollt hätte. Gewissenhaft ging er die Bühnenehe mit dem Mädchen ein, das gewohnheitsmäßig die »schöne Jennifer« genannt wurde, und bei den Proben wurde sogar geflüstert, dass sie hinter der Bühne gemeinsam ihre Darbietung erarbeiteten, während vorn Macduff und Macdingsda über den Zustand der schottischen Monarchie lamentierten. Von den einhundert Plätzen in unserem Schultheater hatte die Familie Aloisi vierzig für die Premiere reserviert. Alles war angerichtet für die Audienz bei Richard.
Dann schlug am Vorabend der Aufführung der schottische Fluch zu, um Richard mit spielerischer Bosheit in seiner tragischen Schwäche zu treffen: Asthma. Normalerweise legte er seine Anfälle so, dass sie nicht mit irgendwelchen geplanten Leistungen kollidierten. Auf jeden Fall hatte er immer ein besonderes Inhalationsspray dabei, das doppelt so stark wie die übliche Sorte und von einem Aloisi-Onkel entworfen worden war, der als medizinischer Innovator in Genua arbeitete. Doch am Montag der großen Woche, nach mehreren Monaten ohne ein einziges Keuchen, bekam Richard in der Schule Atemprobleme und wurde zur Erholung nach Hause geschickt; die Krise verschärfte sich, als das Spray trotz intensivster Nachforschungen des Aloisi-Einsatzkommandos nicht aufgefunden werden konnte. Die Generalprobe wurde abgesagt, und Mr. Tomlinson, der unglückliche Mathematiker, der sich noch immer an seine Schultheaterpflichten klammerte, erinnerte mich daran, dass ich für den Fall der Fälle meinen Text parat haben müsste.
Zu Hause berief ich eine Notlesung des Stücks ein, bei der meine Eltern die Reden der anderen Figuren übernahmen. Mums Beitrag, der mit einer halbherzigen Darbietung der drei Hexen und der Frau Banquos begann, erblühte mit zunehmender Zahl der Rollen bald zur Hauptattraktion. Ihr Vortrag war leidenschaftlich und lyrisch, ihr schottischer Akzent eindringlich und überzeugend; in ihren Augen funkelte eine mädchenhafte Freude, die ich so selten an ihr wahrnahm und nie in ihr wecken konnte. Nach kurzer Zeit fühlten Dad und ich uns fast wie Komparsen – wir wurden sogar von einem Mann in den Schatten gestellt, der an der Tür klingelte, um nach dem Weg zu fragen, und dann einen Kurzauftritt als Ross hinlegte –, und am Ende rechnete ich halb mit einer Verneigung Mums vor dem nicht existierenden Publikum. Stattdessen machte sie sich daran, das Fensterbrett zu putzen, und murmelte, dass sie zum Glück nicht Schauspielerin geworden war, weil sonst im Haus alles liegen bleiben würde.
Meine Mutter hatte zwar als Star geglänzt, aber auch ich hatte Macbeths Zeilen gut hinbekommen und war jetzt überzeugt, die Rolle
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