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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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genauso gut spielen zu können wie Richard. Ob ich eine Chance bekam, hing vom Verbleib des Sprays ab. In den nächsten Stunden würden die Aloisis ihre Suchaktion fortsetzen; Mr. Aloisi hatte wahrscheinlich schon eine Belohnung von zehntausend Pfund ausgesetzt und die Polizei aufgefordert, den Fluss trockenzulegen. Aber das half alles nichts, denn das Spray hatte ich.
    Ich hatte es nicht entwendet, außer das Zurückhalten einer Sache zählt als Diebstahl. Richard hatte es in der vergangenen Woche nach einem kleinen Fußballspiel in unserem Garten bei mir gelassen. Aus reiner Trägheit und Zerstreutheit hatte ich es ihm nicht zurückgegeben, allerdings hätte ein abergläubischer Mensch vielleicht von Schicksal gesprochen. Plötzlich war es ein Gegenstand der Macht, der zwei ganz unterschiedliche Bilder der Zukunft heraufbeschwor. Ich hatte die moralische Pflicht, es zurückzugeben und Richards Ruhm wie ein Märtyrer zu ertragen, doch irgendetwas mahnte mich, dass solche Märtyrertaten in der Vergangenheit meistens genauso wenig Anerkennung gefunden hatten wie meine Anstrengungen, aus dem Schatten meines serienmäßig erfolgreichen Freundes zu treten. Richards plötzliche Beschwerden schienen wie ein Ausgleich, ein Handicap des Stärkeren, das mir die Chance eröffnete, endlich in den Genuss dessen zu kommen, was für ihn normal war. Wie der zitternde Strahl eines Scheinwerfers tanzte die Aussicht meiner Mitwirkung an der Aufführung vor mir.
    Während ich das Spray anstarrte, als besäße es übernatürliche Kräfte, klopfte Dad voller Schwung an die Tür, um etwas Überraschendes zu verkünden. Vielleicht weil er im Berufsleben oft gezwungen war, Nachrichten mit viel Fingerspitzengefühl zu überbringen, kostete er solche Gelegenheiten voll aus.
    »Da will dich jemand besuchen. Soll ich sie dir raufschicken?«
    Das unheilvolle »Sie« war ein beliebter Witz von Dad, doch diesmal konnte er es mit einer genauen Personenbeschreibung belegen. Rote Haare, grüne Augen, so groß ungefähr. »Sieht gar nicht schlecht aus, würde ich sagen«, fügte er genüsslich hinzu, während ich mich voller Panik in dem Zimmer umschaute, in das noch nie eine nicht verwandte Frau einen Fuß gesetzt hatte. O Mann! Das konnte nur die schöne Jennifer alias Lady Macbeth sein, die mit mir das Stück durchsprechen wollte. Sie wohnte nur wenige Minuten entfernt, doch normalerweise kreuzten sich unsere Wege nie; und auch in Zukunft würde das so bleiben, wenn ich den Augenblick nicht irgendwie nutzte. Ich hörte das Knarren der dritten Stufe unter Jennifers leichten Füßen – ich hatte weniger als zwanzig Sekunden, bis sie vor mir stand. Spontaneität, nicht gerade meine Stärke, war meine einzige Chance.
    »Was für eine Überraschung!« Eilig stürzte ich hinaus, um sie zu begrüßen, und verwehrte ihr den Eintritt mit einer unbeholfenen Geste, die fast so verfänglich war wie der Anblick des Sprays selbst. Mit einem Schwall halb verschluckter Worte schlug ich ihr vor, uns auf die Terrasse zu setzen und etwas zu essen. »Ist doch ein warmer Abend, oder was meinst du?«
    Zu meiner Erleichterung stimmte mir Jennifer zu – ich hatte keine Ahnung, wie das Wetter war. Ich schaffte es, sie die Treppe hinunterzubugsieren, ohne dass sie das Spray auf dem Tisch oder irgendeinen anderen der in meinem Zimmer verstreuten Gegenstände bemerken konnte, die mir alle auf einmal wie peinliche Gucklöcher in ein Leben erschienen, das noch nie dem prüfenden Blick eines Mädchens hatte standhalten müssen.
    Nervös und ungeschickt bereitete ich Hamburger zu – das glanzvollste Gericht, das ich im Haus finden konnte – und erstickte jede drohende Stille mit eifrigen, überflüssigen Bemerkungen. Sie erzählte, dass sie gerade von Richard kam. Er war sehr enttäuscht, hatte sich aber damit abgefunden, die Aufführungen zu verpassen, und war überzeugt, dass ich meine Sache gut machen würde. Während der behelfsmäßigen Mahlzeit testeten wir, wie gut wir die Hauptszenen beherrschten, und ich bemühte mich verzweifelt, sein Vertrauen zu rechtfertigen. Nachdem ich mich ein wenig entspannt hatte, zeigte ich mich der Herausforderung gewachsen, und mir unterliefen nur einige kleinere Fehler. Doch selbst dann fand ich schräge Ausreden, die ihr ein lautes, überraschend dreckiges Lachen entlockten. Nachdem zwei Stunden verstrichen waren, konnte sie keinen Zweifel mehr haben, dass ich zumindest in schauspielerischer Hinsicht ein ausgezeichneter Ersatz für

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