Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
am Abend wieder eine Aufführung vor sich hatte. Bei einem verwirrenden Abschied hatte sie mir eine Karte für den zweiten Rang geschenkt, die fünfundsiebzig Dollar wert war, und mich dann gebeten, sie nicht zu benutzen. »Bestimmt bin ich schauderhaft, und dann willst du mich nie mehr sehen«, bemerkte sie mit neckischer Aufrichtigkeit. Doch eingedenk der komplizierten Regeln weiblicher Psychologie deutete ich dies als entschiedene Einladung zu kommen; durch mein Fernbleiben hätte ich signalisiert, dass ich gleichfalls mit ihrem Versagen rechnete, und sie damit vielleicht sogar beleidigt. Und selbst wenn ich sie missverstanden hatte und Lily tatsächlich wollte, dass ich einen Bogen um das Charterhouse machte, gab es gute und naheliegende Gründe, sie »bei der Arbeit« zu beobachten. Sie klang überrascht, als ich ihr telefonisch mein Kommen bestätigte – einen kurzen Augenblick fragte ich mich sogar, ob ich die ganze gestrige Begegnung in einem starken Anfall von Wunschdenken einfach halluziniert hatte –, doch nun war die Sache vereinbart, und ich konnte es kaum noch erwarten.
Am Nachmittag kaufte ich mir ein neues Hemd in der Art, wie Lily es angeregt hatte, und setzte mich in den Central Park, um die seinerzeit maßgebliche Anthologie über Lampenfieber zu lesen. 15 Als sich später die Sonne durch die Wolken kämpfte und in meinen kleinen Winkel leuchtete, genoss ich einen jener seltenen Momente vollkommenen Glücks, in denen kurz und nebelhaft alle Sinneseindrücke – in diesem Fall ein kaum hörbares Bruchstück Vogelgezwitscher und ein schwitzender Jogger, der sich mit einem komplizierten Zeitmessgerät vorübermühte – zu einem speziell inszenierten Schauspiel zu gehören scheinen. Die ruckartigen, entschlossenen Bewegungen des Läufers versetzten mich in eine heitere Stimmung, als hätten wir an diesem Tag ein gemeinsames Übungsziel zu erreichen, dessen größten Teil er auf sich genommen hatte. In diese Euphorie mischte sich nur ein winziger Hauch von Unbehagen, das ich erst nach einer Weile identifizieren konnte: Ich war bereits nervös für Lily. Obwohl ich sie kaum kannte, war mir der Gedanke unerträglich, dass bei ihrem Auftritt heute etwas schieflaufen könnte.
Die Spannung an diesem Abend war für jeden Zuschauer mit Händen zu greifen, vielleicht auch deshalb, weil jeder von ihnen seinen eigenen kleinen Wunsch zur aufgeladenen Atmosphäre beisteuerte. Nach den Gesprächsfetzen vor der Aufführung zu urteilen, zerfiel das Publikum in zwei ungefähr gleich große Gruppen, von denen die eine auf eine perfekte Vorstellung hoffte und die andere sich nach einer Katastrophe sehnte. Einige Mitglieder des zweiten Lagers hatten ihre Eintrittskarte anscheinend allein aus diesem Grund erworben. Außerdem gab es wie bei jeder Begegnung zwischen zwei Sportteams diejenigen, die sich als Anhänger der einen Seite ausgaben, aber insgeheim der anderen die Daumen drückten. Kurz nachdem ich meinen Sitz eingenommen hatte, hörte ich hinter mir eine gemurmelte Bemerkung – »Hoffen wir, dass sie heute keinen Rappel kriegt« –, deren Ton im Gegenteil darauf schließen ließ, dass genau das der erwünschte Ausgang war. Als ich mich nach dem Sprecher umwandte, sah ich einen weißhaarigen Mann mit dem Erscheinungsbild eines Theaterkenners, der seinen kritischen Finger in Lilys Bild im Programmheft bohrte. Ich spürte einen Stich der Kränkung, wie er in der Regel engen Freunden und Verwandten vorbehalten ist, und als sich beim Verlöschen der Lichter mein Magen zusammenkrampfte, wurde mir erneut klar, dass Lily – schon vor ihrem Auftritt – einen Weg gefunden hatte, meinen fachlichen Panzer zu durchdringen.
Falls jemand den Eindruck gewinnt, dass diese Memoiren allmählich »eines Toren Fabel« ähneln, so möchte ich betonen, dass dieses Buch kein Abriss meiner »größten Hits« sein, sondern vielmehr erzählen soll, wie sich bei mir Leben und Beruf verschränkt haben. Aus diesem Grund konzentriere ich mich auf die Ereignisse, die mich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückten und die die größten Auswirkungen auf meine Entwicklung hatten, statt den Leser im Triumphzug durch die von mir gelösten Fälle zu führen. Im Gegensatz zu vielen anderen beruflichen Autobiografien geht es hier um Erfolge und Misserfolge. Ich kann mit ruhigem Gewissen behaupten, dass ich in achtundneunzig Prozent der Fälle in meiner Karriere die Gefahr einer zu großen persönlichen Anteilnahme vermeiden konnte. Doch
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