Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
überhitzten Anrufbeantworter verdampften. Nachdem ich mich eine Weile fruchtlos damit abgekämpft hatte, wechselte ich die Taktik und rief Julian Mackensie an. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln und dankte mir unverzüglich, wenn auch ausdruckslos für meine »Arbeit mit Lily«. Rasch teilte ich ihm mit, dass diese Arbeit durch ihr Verschwinden erst einmal zum Erliegen gekommen war, doch diese Nachricht weckte nicht das von mir gewünschte Bedauern.
»Wahrscheinlich war sie bei ihrem Masseur«, erklärte Mackensie.
»Bei ihrem Masseur?«
»Sie lässt sich doch immer nach der Vorstellung massieren.« Julian rang offenkundig um Geduld, als wäre das eine allgemein bekannte Tatsache, von der jeder wissen musste. Aber in unserem zwölfstündigen Gespräch hatte Lily diesen Teil ihres Alltags mit keinem Wort erwähnt. »Dann zwei Schlaftabletten und weiß Gott was sonst noch. Schon mir fällt es nicht leicht, sie zu erreichen!« Er lachte freudlos.
Sein Ton erinnerte mich unangenehm an die Begegnung am vergangenen Abend mit dem selbstbewussten Hausmeister, und kurz wallten eine starke Irritation und Feindseligkeit gegen Julian Mackensie in mir auf, die nur noch wuchsen, als ich mir klarmachte, dass es nicht seine Schuld war. Am liebsten hätte ich die negativen Folgen von Lilys Verhalten aufgezählt, doch dann musste ich mir eingestehen, dass meine Verärgerung weniger von meiner fachlichen Ungeduld herrührte als von dem Wunsch, wieder mit ihr zu sprechen, und der Enttäuschung darüber, so schnell vom neuen, bevorzugten Vertrauten zum gestrandeten Trottel am Bühnenausgang abgestiegen zu sein; vom Psycho-Ass zum verschmähten Blumenbringer. Gerechterweise muss angemerkt werden, dass dieses Gefühl zumindest teilweise in meiner Arbeit begründet war – Lilys Fall war interessant, und ich war überzeugt, echte Fortschritte mit ihr machen zu können –, doch die persönliche Kränkung spielte eine große Rolle, und dafür verdiente ich keine Sympathie. Ich verzichtete darauf, dem Direktor diese Überlegungen mitzuteilen. Stattdessen dankte ich ihm kühl und gab ihm eine Nachricht für Lily durch: Sobald sie bereit war, konnten wir uns wiedersehen. Ich versuchte es mit einer sarkastischen Betonung des Wortes »bereit«, allerdings ohne die Hoffnung, dass Julian es richtig ausrichten würde.
Unten saß Richard umgeben von Karteikarten, Blättern mit hand- und maschinengeschriebenen Notizen und Büchern, deren aufgeschlagene Seiten häufig mit Leuchtstift markiert waren: ein Aloisi-Markenzeichen seit der Schule, wo seine Tintenattacken auf Lehrbücher (die er immer selbst kaufte, statt sie sich stellen zu lassen) bei einigen Lehrern Entsetzen ausgelöst, sich aber immer als unschlagbar wirksame Lernhilfe erwiesen hatten. Da ich die unerbittliche Beharrlichkeit kannte, mit der sich Richard in jede ihn begeisternde Aufgabe hineinkniete, hätte ich mich nicht gewundert, wenn er den ganzen Wust an Papieren um ihn herum seit unserer letzten Begegnung selbst produziert hätte.
»Ein Wahnsinnsfall, Pete, glaub mir.« Grinsend funkelte er mich durch seine teure Brille an. In den vergangenen Tagen hatte er mich mit kurzen Zusammenfassungen auf dem Laufenden gehalten, und jetzt reichte er Einzelheiten zum Hintergrund nach. Ein sechsundfünfzigjähriger Mann namens Andre Genelli hatte angeblich seine Frau ermordet, die zunächst vermisst und dann im Garten der Genellis tot aufgefunden worden war. Zwar hatten die Ermittler kaum belastendes Material entdeckt, doch Genelli war in der Haft zusammengebrochen und hatte das Verbrechen gestanden. Gegen die Berufung anzugehen war eigentlich nur eine Formalität, doch Genellis Verteidigung hatte sich eine Überraschung einfallen lassen: ein Psychologe, der behauptete, dass man Genelli das Geständnis durch brutale Verhörmethoden abgepresst hatte, die beim Beschuldigten zu einem Stockholm-Syndrom geführt hatten. Das irgendwo im umstrittenen Gebiet zwischen neurologischem Ungleichgewicht und einer bloßen Laune des unter Druck gesetzten Verstands angesiedelte Stockholm-Syndrom betrifft Menschen, die gefangen gehalten werden – im namensgebenden Ursprungsfall in einer Bank – und in dem unterbewussten Bemühen um ihre Sicherheit Gefühle blinder Zustimmung und Zuneigung bis hin zu Liebe für ihre Geiselnehmer entwickeln. 16 Unter Berufung auf ein Vernehmungsprotokoll konnten Genellis juristische Vertreter auf überzeugende Weise darlegen, dass ihr unschuldiger Mandant nur aus
Weitere Kostenlose Bücher