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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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eines direkten Blickkontakts zu ihr, bevor sie mit einem leicht verzagten Winken für die Zuschauer von der Bühne verschwand.
    Beim Belauschen der Besucher, die sich geduldig durch das Riesentor hinaus zu den wartenden Taxis drängten, stellte ich verblüfft fest, dass Lilys Darbietung nicht einhellig auf Anklang gestoßen war. Den positiven Beurteilungen standen durchaus kritische Stimmen gegenüber. »Die Worte waren alle da«, knurrte eine dicke Dame mittleren Alters unter einem riesigen Hut, zu der ich Anschluss zu halten versuchte wie ein sensationslüsterner Reporter, »aber es kommt doch darauf an, was man mit dem Gesicht macht. Was man mit dem Gesicht macht «, wiederholte sie mit erhobener Stimme für ihren Gesprächspartner, einen tauben Alten, der sich immer wieder zu einem »O ja, ja« genötigt sah.
    »Wenn eine so viel Wirbel macht, dann darf man doch erwarten, dass sie das auch wert ist«, bemerkte ein hochgewachsener Mann mit einer dicken Zigarre. Sichtlich geschmeichelt vom Nicken seiner Begleiter, nutzte er die Gelegenheit, um seine Einschätzung zu wiederholen.
    »Irgendwie kann man sich schon vorstellen, dass sie bald verrückt wird«, resümierte eine Frau, die mit einem extravaganten pinkfarbenen Drink in einem mit den Masken der Komödie und Tragödie dekorierten Glas aus der Bar strebte. Neben der beschützerischen Empörung, die ich schon vorhin für Lily empfunden hatte, spürte ich jetzt auch gerechten Zorn in mir aufsteigen. Irgendwie war das Ganze ein klassischer Fall von Suggestion: Diese Menschen waren gekommen, um eine verstörte Diva zu sehen, und lasen nun, da sie stark und unbekümmert aufgetreten war, Stress in ihrem Gesicht und Panik in ihrer Stimme, die gar nicht existierten. Oder hatten wir einfach unterschiedliche Auffassungen von guter Schauspielerei, oder – schlimmer noch – war ich derjenige mit der verzerrten Wahrnehmung, der die gewünschte geschliffene Darbietung halluzinierte? Ich war schon gespannt auf die wichtigste Einschätzung: die Lilys. Ich überquerte die Straße und kaufte an einem kleinen Stand einen Strauß Blumen. Ein flüchtiger Blick zum Kiosk nebenan zeigte, dass die aufliegenden Zeitungen sämtlich über Richards Gerichtsverfahren berichteten. Dann eilte ich zum Bühnenausgang, wo wir uns verabredet hatten.
    Erst nachdem ich eine Stunde lang im schlierigen Nieselregen gewartet hatte, der von den Straßenlaternen fast filmisch angestrahlt wurde, dämmerte mir allmählich, dass Lily nicht kommen würde. Diese Befürchtung wurde zur Gewissheit durch einen vierschrötigen Mann mit Schnurrbart, der wie Banquos Geist aus dem Nichts auftauchte und einen klirrenden Schlüsselbund schwenkte. Er fixierte mich mit geringschätzigem Mitleid, und ich fühlte mich in einen demütigenden Nachmittag meiner Kindheit zurückversetzt, an dem Dad vergessen hatte, mich vom Fußballtraining nach der Schule abzuholen.
    »Hier gibt’s nichts mehr zu sehen, Sir. Ich sperre gerade ab.« Der Hausmeister ließ ein ironisches Lächeln aufblitzen, als gäbe er eine Karikatur seines Berufsstands zum Besten.
    »Ich bin hier mit Lily Ripley verabredet.« Meine Worte klangen schwach und unglaubwürdig. »Ich bin ihr Psychiater«, fügte ich hinzu.
    »Im Moment ist jeder ihr Psychiater, Sir.« Der Hausmeister stieß krachend eine Außentür vor dem von mir vergeblich bewachten Eingang zu und verriegelte die gesamte Konstruktion mit geübtem Schwung. Die gemütliche Endgültigkeit seines Tons ließ meine Hartnäckigkeit versiegen. Wahrscheinlich hatten hier schon viele andere Besucher vergeblich auf Lily gewartet, vielleicht sogar andere Psychiater. Nachdem ich mich bei dem Mann bedankt hatte, machte ich mich auf den Weg. Ich fluchte auf das Theater im Allgemeinen und die Schauspieler im Besonderen und hielt mir einmal mehr die Gefahren einer zu starken emotionalen Bindung vor Augen. Als ich am Eingang zur Subway eine Obdachlose bemerkte, machte ich den Fehler, ihr die Blumen anzubieten. Die verachtungsvolle Geste, mit der sie sich abwandte, war die Krönung der letzten zwei jämmerlichen Stunden.
    Als ich Lily am nächsten Morgen eine Nachricht hinterließ, war ich gezwungen, relativ verstohlen vorzugehen – mein äußerst professioneller Gastgeber, der zehn Minuten Warten auf einen Patienten als Zeitverschwendung betrachtet hätte, musste erst am Nachmittag zum Gericht –, und schon während mir die Worte über die Lippen kamen, hatte ich das Gefühl, dass sie auf dem bereits

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