Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
erwähnt, hatte ich nichts zu verlieren, als ich nach New York kam. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, mit vielen Leuten aus Richards ausgedehntem Bekanntenkreis zusammenzutreffen, in moderatem Ton auf Fragen nach dem Fall Patsy DiMarco einzugehen und in einem schlagfertigen Meinungsaustausch Minute für Minute meine Anschauungen über Psychiatrie zu revidieren, um mich der rastlosen Brillanz der New Yorker Szene anzupassen. Stattdessen stellte ich fest, dass ich die meiste Zeit mit dem Lesen von Fallnotizen in Richards Gästezimmer verbrachte, weil er so mit seinem Gerichtsverfahren beschäftigt war, dass er kaum einen Moment übrig hatte. Das Schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen wie am vergangenen Abend war so angenehm wie immer – wie alle großen Freundschaften überstand die unsere lange Trennungen ohne jeden Bruch und konnte einfach da fortgesetzt werden, wo wir damit stehen geblieben waren –, doch selbst dann hatte ich das Gefühl, diese Zeit seiner Freundin Donna stehlen zu müssen, die mir immer mit einem freundlichen, verständnisvollen Lächeln begegnete, als wäre ich Richards Kind aus einer anderen Ehe.
»Ich weiß auch nicht, was ich mir eigentlich vorgestellt hatte«, schloss ich, während Lily nickend und murmelnd den Rollentausch besiegelte. »Ich wollte mal raus aus Chicago, und das ist mir gelungen. Ich wollte Richard wiedersehen, und auch das habe ich gemacht. Es ist nur …«, beunruhigt hörte ich, dass ich Dinge von mir gab, wie ich sie von den Bandaufnahmen meiner Patienten kannte, »na ja, wahrscheinlich kann man noch so viel rumreisen – wenn die Probleme im Inneren sind, kann man ihnen auch nicht entfliehen, man wechselt nur die Szenerie.«
»Genauso fühle ich mich hier«, erwiderte Lily.
Ich überredete sie, mir den Film zu zeigen, der sie in die USA gebracht hatte, ein »Wohlfühlstreifen« mit dem Titel Mr. Imperfect. Der ursprünglich nur fürs Fernsehen gedachte Film wurde dank seines unschlagbaren Rezepts – junges Paar trifft sich, wird getrennt und findet nach einer Stunde hektischer Verwicklungen und Missgeschicke endlich zusammen – zu einem der großen Überraschungskassenschlager des Jahres 1975. Lily, die im Lauf der schier endlosen Wendungen nicht nur eine Liebesgeschichte zu bestehen hatte, sondern auch des Diebstahls bezichtigt, mit der First Lady verwechselt und entführt wurde, sah sich danach mit einer Welle von Offerten konfrontiert, die von seichten Café-Komödien bis hin zu Schnulzen über ehrgeizige, vom Krebs aus der Bahn geworfene Olympioniken reichten. Ehe sie sich umschauen konnte, hatte sie einen festen Platz auf dem Schicksalsrad von Hollywood, ohne dass ihre englische Bühnenausbildung in dem Nebel halsbrecherischer Sechswochendrehs von Bedeutung gewesen wäre. Erst in den letzten beiden Jahren, als sie die »Fünfunddreißig-Schwelle« überschritten hatte und die Bond-Girl-Angebote zu Stiefmutterrollen mit drei Szenen wurden, war sie zu ihrer ursprünglichen Arbeit am Theater zurückgekehrt. »Das ist meine eigentliche Bestimmung.« Sie zuckte leicht zusammen, als ihr früheres Ich mit Dauerwelle wenig überzeugend stolperte und dem Café-Inhaber – in einem Kurzauftritt verkörpert von Danny DeVito, der bei der Finanzierung des Films geholfen hatte, bis »andere Streifen dazwischenkamen« – Trinkschokolade übers Hemd schüttete.
Zwar redete sie halb im Scherz und in dem Bewusstsein, dass sie den Wohlstand um sich herum zum größten Teil der Leinwand zu verdanken hatte, doch es war nicht zu übersehen, dass sie an einem Ideal »richtiger Schauspielkunst« festhielt, das nicht nur ein Beruf war, sondern eine Berufung. Das machte es umso kurioser, dass ich sie aufgrund von Problemen behandeln sollte, hinter denen sich nach Auffassung der meisten Beobachter schlicht die Unfähigkeit verbarg, sich auf der Bühne zu behaupten.
Erneut beschlich mich das Gefühl, dass mir etwas entgangen und dass die Geschichte von Lilys Störung ein wenig komplizierter war als die von Mr. Imperfect , die uns nach leichtem Galopp am Ende die beiden wiedervereinten Liebenden präsentierte, die nach Geschäftsschluss auf den Tischen des Cafés tanzten und dabei zum Abspann heimlich vom warmherzig glucksenden Inhaber DeVito beobachtet wurden. Während ein eifriger Schlusssong die Zuschauer an den Wert der Liebe erinnerte, einigten wir uns darauf, dass der Film nicht unbedingt zu den Höhepunkten von Lilys Karriere zählte. Als ich allerdings gedankenlos
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