Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Gleichgewicht des Falles zu verschieben und seinen glänzenden Ruf als unübertrefflicher Gerichtspsychologe zu untergraben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich jemand anders anrief als meine Eltern, die mir womöglich etwas Ernstes mitzuteilen hatten, und zum vierten oder fünften Mal seit der Verschlimmerung seines Lungenleidens wappnete ich mich innerlich für die Nachricht vom Tod meines Vaters.
Doch es war Lily. »Kannst du zu mir kommen? Jetzt gleich?«
»Es ist …«
»Ich weiß, wie spät es ist«, unterbrach sie mich. »Aber kannst du kommen? Ich hab dir nicht richtig erklärt, was los ist. Mir ist klar geworden, dass ich dir vertrauen und dir alles erzählen muss, damit du die Sache regeln kannst.«
»Warum jetzt?« Eigentlich freundete ich mich schon mit dem Gedanken an. Ich fühlte mich unangemessen wach und interessiert.
»Weil es der richtige Zeitpunkt ist.«
Nach fünf Minuten saß ich in einem gelben Taxi und klammerte mich am Haltegriff fest, als der Fahrer mit trüben Augen durch die Seitenstraßen bretterte, ohne sich darum zu kümmern, ob ihm der Schlaf oder der Tod zuerst Ruhe brachte. Als um sechs Uhr früh eine stumpfe Sonne über Manhattan aufging, begrüßte ich Lily mit einem vorsichtigen Kuss, nachdem sie mir in einem dünnen blauen Negligé geöffnet hatte.
Mit möglichst geschäftsmäßigem Ausdruck nahm ich danach eine Tasse sirupsüßen Kaffee an und vermied jeden Smalltalk zum Auftakt, der uns von den versprochenen Enthüllungen ablenken konnte. Das Apartment war mehr oder weniger, wie ich es in Erinnerung hatte, allerdings bemerkte ich beim Betreten der Küche mit leichter Verblüffung eine Veränderung an dem Poster mit den Arbeitern: Jemand hatte den »Irren« mit roten Haarsträhnen und einem Lady-Macbeth-Kleid veredelt, sodass er jetzt aussah wie Lily als Transvestit. Zu spät fiel mir ein, dass ein neutralerer Treffpunkt dazu beigetragen hätte, die Atmosphäre einer Konsultation herzustellen. So aber blieb unser Verhalten merkwürdig unangemessen: Lily führte mich in ihr Schlafzimmer, wo sie sich wie ein Vogel auf ein großes, seltsam geformtes Bett hockte, während ich mich mit unbeholfen gespielter Gelassenheit auf einem kleinen Polsterstuhl niederließ und meinen Augen untersagte, über die zarten Partien ihrer nackten Haut zu wandern. Es hätte eine Szene aus einem Pornofilm sein können: der unglückselige Psychiater in den Fängen der Femme fatale. Ich machte einen Witz, um die Aufmerksamkeit auf die Verfänglichkeit der Situation zu lenken, dann versuchte ich mich irgendwie herauszuwinden und war schließlich gezwungen, auf eine sichere Eröffnung zurückzugreifen.
»Also, was wolltest du mir erzählen?«
»Hör zu«, entgegnete Lily. »Vertraust du mir?«
Das war genau die Frage, die ich selbst oft schwierigen Patienten stellte, weil sie wie ein guter Schachzug die Ereignisse beschleunigte: Lautete die Antwort Ja, dann konnte ich in jeder erforderlichen Richtung nachforschen; lautete sie Nein, konnte ich das Engagement meines Gegenübers für den ganzen Prozess in Zweifel ziehen. (Du vertraust mir nicht? Warum redest du dann überhaupt mit mir? Was wäre nötig, damit du mir vertraust?) Nun war ich derjenige, der über diese Frage nachsinnen musste, während Lilys großherzige grüne Augen schimmerten wie feuchtes Gras nach einem Gewitter. Ihr stark gerötetes Gesicht zeigte die fleckigen Abdrücke von hastig weggewaschenen Tränen; das Haar hing schief vom unruhigen Schlaf, und die schmalen Hände waren ineinandergefaltet, als müssten sie einander Halt bieten.
»Natürlich«, antwortete ich.
»Also gut. Ich wollte dir das nicht erzählen, weil es so blöd klingt. Wahrscheinlich hast du noch nie so was Blödes gehört.«
»Vergiss nicht, es gehört zu meiner Arbeit, mir blöde Dinge anzuhören«, sagte ich, um sie zu beschwichtigen. »So steht’s zumindest auf meiner Visitenkarte.«
Ein bitterer Witz, denn vor zwei Jahren hatte ich gedankenlos aus einem Kaffeebecher mit der Aufschrift ICH BIN VON IDIOTEN UMGEBEN getrunken, und der anwesende paranoide Patient hatte den Termin in der Überzeugung abgebrochen, dass ich mich über ihn lustig machte.
»Nun, irgendwem muss ich es ja erzählen«, fuhr sie fort. »Und du bist der einzige Mensch, den ich kenne – ich weiß, wir haben erst einmal miteinander geredet, aber trotzdem … Ich hab einfach das Gefühl, dass ich dir was anvertrauen kann.«
Schweigen.
»Im Grunde wurde ich aufgefordert, mit dem
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