Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Furcht vor Polizeiübergriffen gestanden hatte. Das New York Police Department hatte sich durch die Unterdrückung weiterer Protokolle für diesen Vorwurf anfällig gemacht, und plötzlich konnte Genelli auf einen Freispruch hoffen.
Um wieder die Oberhand zu gewinnen, hatte die Staatsanwaltschaft Richard eingeschaltet, der jetzt in einem Fall das Zünglein an der Waage abgab, der Juristen und Psychiater gleichermaßen faszinierte. Ich hingegen behandelte eine unter Lampenfieber leidende Schauspielerin. Wie so oft geriet der Vergleich zwischen uns wenig schmeichelhaft für mich. Beide waren wir mit nachrichtenträchtigen Fällen befasst, doch im Vergleich zu Richards Anstrengungen war meine Arbeit nur Spielerei.
Ohne ein ermunterndes Wort von Lily folgte ich an diesem Tag Richards Beispiel und beschäftigte mich fleißig mit weiteren Recherchen zur Auftrittsangst. Wenn Richard Lily Ripley behandelt hätte, da war ich mir sicher, dann hätte er inzwischen bereits Werke über alle bekannten Formen von Angst und vielleicht sogar über alle Leute konsultiert, die je in der Öffentlichkeit Nervosität an den Tag gelegt hatten. Ich konnte weder so zielstrebig lesen noch derart blitzschnell Theorien erfassen wie Richard, doch vielleicht gelang es mir, durch Nachahmung die Gewohnheiten eines Überfliegers auf mein Leben zu übertragen; wenn ich wie ein großer Macher auftrat, konnte ich vielleicht selbst einer werden durch die »positive Visualisierung«, zu der ich meinen Patienten immer riet.
Nachdem ich versucht hatte, durch mentales Kanalzappen mein Gehirn zu erschöpfen, musste ich bei Einbruch der Nacht wieder an Lily denken. Wo war sie den ganzen Tag gewesen, und war sie wirklich nicht auf die Idee gekommen, sich mit mir in Verbindung zu setzen? Vage erinnerte ich mich an ein Zitat aus einem Aufsatz über Bühnenkunst, den ich vor Jahren gelesen hatte: »Der perfekte Schauspieler hat keine Persönlichkeit oder, genauer gesagt, so viele Persönlichkeiten wie Begegnungen mit anderen Menschen. Charakterliche Beständigkeit ist fatal.« Vielleicht enthielt diese aufgeblasene Weisheit einen Kern von Wahrheit über Lily, vielleicht lebte sie nach den Leitlinien von Der Würfler – ein Buch, das ich in ihrem Regal gesehen hatte – und überließ es dem Würfel, ihr tägliches Verhalten zu bestimmen:
1 für Flirt
2 für Gleichgültigkeit
3 für völliges Verschwinden
4 für ein Aufmerksamkeit heischendes Manöver.
Und so weiter, jedes Sechstel ihrer willkürlichen, würfelgesteuerten Persönlichkeit unabhängig von den anderen, sodass eine Unterhaltung mit der Lily vom Mittwoch keinen Platz hatte im Gedächtnis der Lily vom Freitag. Sie wäre beileibe nicht der erste Mensch in meinem Leben gewesen, der sich glücklich mit kompletter charakterlicher Unbeständigkeit abgefunden hatte. Anscheinend hatte Der Würfler bei meinen Patienten so einiges angerichtet. Der Unterschied war bloß, dass ich die Widerspenstigkeit einer Patientin sonst nicht als persönliche Kränkung auffasste.
Das brachte mich auf einen anderen beunruhigenden Gedanken: Was, wenn ich grob unfair zu Lily war und eine Katastrophe sie davon abgehalten hatte, sich mit mir zu treffen? Konnte Lilys Problem, die verborgene Gefahr, die ich bisher nicht erfasst hatte, eine Bedrohung für sie sein? Vielleicht ein besessener Fan wie Neil Ayer oder das Komplott einer eifersüchtigen Zweitbesetzung wie Peter Kristal im Jahr 1967? Zuneigung wallte in mir auf, und ich sehnte mich danach, Lilys Stimme wieder zu hören. Zwar hatte ich noch nie durch schiere Nachlässigkeit eine schwere Verletzung oder gar den Tod eines Patienten verschuldet, doch ich fühlte mich schrecklich schutzlos. Mit meinem letzten bewussten Gedanken nahm ich mir vor, mich am nächsten Tag gleich auf die Suche nach ihr zu machen.
Doch selbst diese bescheidene Absicht durchkreuzte Lily mit ihrem nächsten Schritt: Mit rot geränderten Augen schüttelte mich Richard gegen Morgen aus dem Schlaf und gab mir zu verstehen, dass ich am Telefon verlangt wurde. Draußen zeigte sich halbherziges Dämmerlicht, als sich Richard türenknallend in sein Zimmer zurückzog. Immer noch benommen kam ich zu dem Schluss, dass der Anruf vielleicht aus Versehen seine Stichpunkte und die des angeklagten Mörders Genelli durcheinandergewirbelt hatte. Möglicherweise stumpfte die fehlende halbe Stunde Schlaf Richards rhetorische Klinge ab; vielleicht reichte der Verlust einer einzigen Metapher, um das empfindliche
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