Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Stück aufzuhören.« Sie senkte den Blick auf die Hände.
Schweigen. Meine Miene blieb undurchdringlich.
»Seit zwei oder drei Wochen bekomme ich Warnungen … Was Schreckliches wird passieren …«
Ich blieb stumm, obwohl ich inzwischen vor Neugier platzte.
»… in meinen Träumen.« Lily war zu Ende.
Diesmal biss ich an. »In deinen Träumen?«
»Na ja, eigentlich sind es eher Albträume«, erwiderte Lily. »Pete, ich habe seit zwanzig Tagen jede Nacht den gleichen Traum. Ich entkomme ihm nur, wenn ich trinke oder was nehme, damit ich nachts regelrecht bewusstlos bin. Ich habe schreckliche Angst davor. Ich will nicht mehr schlafen, weil ich wieder träumen könnte. Weißt du, wie das ist, wenn man sich davor fürchtet einzunicken, weil da was Furchtbares auf einen wartet?«
Ihre Stimme war leise, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. Ich nahm ihre feuchte Hand und legte sie sorgfältig auf mein Knie. Dann versicherte ich ihr, dass ich es wusste, obwohl der schlimmste wiederkehrende Traum meines Lebens noch in der Zukunft lag.
»Erzähl mir von den Träumen«, forderte ich sie auf.
»Es ist … es sind blöde Träume. Eigentlich nichts, wovor man sich fürchten muss.«
Schweigen. Mir waren schon die verschiedensten Themen als Basis für einen Albtraum begegnet. Erst drei Monate vor der Sache mit Lily war ein Patient von mir, ein Banker, fast in den Wahnsinn getrieben worden durch einen wiederkehrenden Traum, in dem er sich in einen Wasservogel verwandelt hatte und zu verhungern drohte, weil er seinen Schnabel nicht richtig gebrauchen konnte. Wie Horrorfilme werden Albträume eher von der Atmosphäre bestimmt als von einem speziellen Thema. Dennoch blieb ich stumm.
»In dem Traum laufe ich normalerweise bloß herum, als hätte ich mich verirrt«, fuhr Lily fort. »Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wohin ich will. Manchmal bemerke ich was Bekanntes, aber dann ändert es die Form, und ich kann mir nie sicher sein, was los ist. Dann merke ich allmählich, dass mich die Leute schief ansehen. Ich versuche, sie anzusprechen, aber sie ignorieren mich. Schließlich spuckt mich jemand an, und alle lachen und klatschen. Ich gehe immer schneller, aber überall sind Gesichter … vorwurfsvolle Gesichter, und sie umringen mich, sie schreien mich an und nennen mich Mörderin. Ich will weg, aber sie drängen von allen Seiten heran. Ich frage sie, was ich denn getan haben soll, und sie lachen bloß. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich was getan habe, aber irgendwie weiß ich, es stimmt, ich habe was getan.« Sie erschauerte. »Dann schaltet es plötzlich in eine Art Gegenwart um. Wir sind in einem Zimmer, so wie hier. Dort ist eine Frau, die mir ein bisschen ähnelt. Ich frage sie, was los ist, und rechne damit, dass sie mich anschreit wie die anderen, aber sie bleibt ganz ruhig. Sie sagt, ich muss mit allem aufhören, das ist meine einzige Chance. Undeutlich verstehe ich, dass sie von dem Stück redet, von Macbeth. Dann plötzlich verliert sie die Beherrschung; sie schüttelt mich und verlangt, dass ich es aufgebe. Ich frage sie, warum es falsch ist, das Stück zu machen, und dann …«, wieder zitterte sie, und diesmal spürte ich, dass ihre Hand in echter Angst erstarrte wie von einem Stromschlag, »dann schaue ich ihr ins Gesicht, und es ist mein Gesicht, nur tot. Es stiert mich mit hohlen Augen an. Und da wache ich auf.« Sie schniefte. »Und dann spiele ich in dem Stück, und … alles erinnert mich daran. Es ist blöd, aber ständig passieren diese komischen Dinge. Und man kann nichts dazu sagen, weil dieser Macbeth -Fluch so abgedroschen ist, aber …«
»Was für komische Dinge?«
»Angefangen hat es damit, dass James beinahe von dem Turm erschlagen wurde. Das war an dem Tag, nachdem ich den Traum zum ersten Mal gehabt hatte. Das kann natürlich Zufall sein, aber … Dann war der Traum einmal besonders schlimm, und am nächsten Tag hatte ich so einen Schmerz ums Herz und konnte auf der Bühne nicht mehr atmen. Robert war gerade bei seiner Rede, und ich dachte bloß: Sprich einfach weiter, denn wenn ich dran bin, kann ich nur würgen. Und dann der Tag, als ich verschwunden bin, das stand ja auch in den Zeitungen, da war mir schlecht.« Fast ein wenig stolz wie ein Kind, das sich für einen Trotzanfall rechtfertigt, fügte sie hinzu: »Ohne jeden Grund. Ich war gerade an der Stelle, wo ich Macbeth sage, dass er ein Mann ist, wenn er Duncan tötet, und auf einmal denke ich, verdammt, ich muss mich
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