Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Behauptungen klangen die Geschichten über nächtliche Enthüllungen durchaus beeindruckend, solange man sie nicht in den Kontext aller unerfüllten Voraussagen stellte, über die nichts berichtet wurde. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings schwer zu sagen, ob ein entsprechender Hinweis Lilys abergläubische Regungen zurückdrängen oder im Gegenteil die von ihr befürchtete Respektlosigkeit zum Ausdruck bringen würde. Fürs Erste fand ich, dass jemand nach zwanzig Albträumen einen gewissen Vertrauensbonus verdient hatte.
Daher fragte ich: »Was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?«
»Könntest du heute Nacht hier schlafen?«
Normalerweise hätte mich das in ein Dilemma stürzen müssen, doch inzwischen hatte ich die rote Linie der Beziehungen zwischen Arzt und Patient so weit hinter mir gelassen, dass ich sie kaum noch am Horizont erkennen konnte. Schon seit geraumer Zeit war klar, dass es sich hier nicht um einen Standardfall mit klar abgegrenzten Konsultationen handelte: eine Stunde fachlicher Neutralität von zehn bis elf mit Kaffee. In einer Woche stand mein Rückflug nach Chicago an – dann war das Budget des Theaterunternehmens für die psychologische Betreuung der Mitwirkenden genauso erschöpft wie die Geduld meiner vertrösteten Patienten zu Hause –, doch bis dahin war wohl alles möglich.
Wir machten aus, dass ich um elf nach der ausverkauften Abendvorstellung kommen sollte. Als ich gerade ansetzte, Lily zu einem entspannten Tag zu raten, klingelte das Telefon, und sie rief vergnügt den Namen des Anrufers – es klang wie Marco oder vielleicht Margot. Zugleich gab sie mir mit einem verschwörerischen Blick zu verstehen, dass sie sich vor dieser Unterhaltung fürchtete. Es folgte ein kurzer Austausch, bei dem Lily anscheinend allem zustimmte und sich für eine Stunde später mit ihm zum Frühstück verabredete. Nachdem sie aufgelegt hatte, erklärte sie, dass einer ihrer Freunde sie »unbedingt« sehen musste. »Er will über das Buch reden, das er geschrieben hat. Anscheinend ist er auf hunderttausend Dollar Schadenersatz verklagt worden.« Mit diesen Worten küsste sie mich leicht auf die Wange und verschwand ins Bad, um sich auf dieses und weitere Treffen vorzubereiten. Der Versuch, Lilys gesellschaftliche Landkarte zu begreifen, war, als würde man mitten in der fünften Staffel in eine Fernsehserie einsteigen. Irgendwann hatte man das Versäumte sicher nachgeholt, doch fürs Erste musste ich mich damit begnügen, die unbedeutenderen Figuren kommen und gehen zu lassen. Draußen entfaltete sich ein herrlicher Morgen, und noch hatte sich die Erschöpfung nicht eingestellt, um die geborgte Kraft zurückzufordern. Einladend lag der Tag vor mir mit der Aussicht auf geruhsame und zugleich erfüllte Stunden.
Auf der Toilette eines Cafés rasierte ich mich mit einem winzigen Wegwerfrasierer, eines von vielen Geschenken, mit denen ich auf meinem Erste-Klasse-Flug nach New York überschüttet worden war. Jetzt wurde mir klar, dass das Theaterunternehmen mit dem für Luftverkehrluxus verschwendeten Geld (Hirschsteaks, Weine Jahrgang 1962, Atemerfrischer für Manager, Bürogolfset) mich für eine weitere Woche Behandlung Lilys hätte bezahlen können. Zum damaligen Zeitpunkt wäre ich wahrscheinlich gar nicht bereit gewesen, meine Termine in Chicago zwei Wochen oder länger hinauszuschieben, doch das war, bevor ich sie kennengelernt hatte. Ich klatschte mir Wasser ins Gesicht und blickte in den schmuddeligen Toilettenspiegel. Ich sah einen souveränen, gepflegten Mann Anfang dreißig mit exzellentem romantischem Potenzial und ohne jedes Minderwertigkeitsgefühl. Mein Selbstbild schien sich langsam zu erholen.
An diesem Tag setzte ich mein aloisiartiges Studium fort und verschlang so viel wie nur möglich von der Geschichte der Traumtheorie. Für dieses Gebiet hatte ich mich schon in Michigan interessiert, und auch später in meiner psychiatrischen Karriere hatte ich mich immer wieder damit befasst, zuletzt bei der Betreuung des Bankers, der an der Beherrschung seines Schnabels verzweifelte. Doch in meiner neu erwachten Begeisterung für Grundlagenforschung fühlte ich mich verpflichtet, mich durch eine Anthologie über Traumpsychoanalysen und sogar die fünfzigseitige Einleitung zu arbeiten, aus der ich erfuhr, dass Chaucer über vierzig Mal auf Träume verweist und dass das Inuit-Wort für »Traum« das gleiche ist wie für »Wahrheit«. Zwischen diesen Trivialitäten fanden sich aber auch
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