Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
wesentliche Informationen, von denen ich mir viele wie gehabt durch Nachschlagen im Register einprägte. Bestärkt durch dieses Pensum, fühlte ich mich klinisch sattelfest im Hinblick auf das Phänomen Traum. Doch wie bereits gesehen, spielt im Bereich der Psychotherapie auch das Zwischenmenschliche eine große Rolle. Logik und Theorie reichten nicht, um Lily davon zu überzeugen, dass ihre Träume keine Vorahnungen einer nahenden Katastrophe waren. Dazu brauchte es geschickt dosiertes Zureden und die Versicherung, dass ihre Angst durchaus berechtigt war.
Natürlich bestand die Chance, dass der wiederkehrende Traum aufhörte, wenn sie sich mit meiner Hilfe vor dem Schlafen stark entspannte, aber die »Warnungen« waren so häufig wiederholt worden, dass noch lange nicht mit einem Abklingen von Lilys Furcht zu rechnen war. Die Anwendung von Medikamenten zur Unterbindung der Traumerinnerung wäre zwar durchaus nicht ungewöhnlich gewesen, doch die Nebenwirkungen waren ungewiss. Außerdem sah ich darin eher die Notlösung eines Quacksalbers. Hingegen brauchte es echtes Geschick, um Lily von ihren Ängsten und der Vorstellung abzubringen, dass ihre Träume drohendes Unheil ankündigten. Ich freute mich auf diese Herausforderung, und der Gedanke, Lily aus der Dunkelheit der Nacht herauszuführen, erhellte meine Nachmittagsstunden. Keine Frage: besser zu spät als nie.
Als ich am Abend eine Reisetasche packte wie ein Siebtklässler, der sich auf eine Pyjamaparty vorbereitet, drang aus Richards ununterbrochen laufendem Fernseher ein bekannter Name an mein Ohr. Er selbst schenkte dem Gerät zwar kaum Beachtung und ließ sich sogar seine eigenen Auftritte entgehen, aber seine Freundin Donna, eine selbstständige Grafikdesignerin, ließ es den ganzen Tag eingeschaltet aus Furcht, eine interessante Meldung zu verpassen (einer der sieben Gründe, die Richard anführen sollte, als er 1988 die Beziehung beendete und mit der vierundzwanzigjährigen Redakteurin eines Modemagazins zusammenzog). Zwischen endlosen Wiederholungen greller Werbespots wurde der Zuschauer in Kurzmeldungen in einen Gerichtssaal entführt, wo die Geschworenen das Urteil über Andre Genelli sprechen sollten. Die Kamera schwenkte über die Reihen gespannter Gesichter, darunter auch das von Richard. In diesem hyperaktiven Sender wurde selbst das würdevolle Geschehen bei Gericht in dem atemlosen Trommelfeuer eines Sportereignisses präsentiert: Der schwermütige Richter gab moralische Plattitüden von sich, die eine flüsternde Moderatorin mit hektischen Kommentaren begleitete. Es war fast unmöglich, dem Mischmasch aus Stimmen und Bildern zu folgen, doch das Endergebnis war klar: Die blutleeren Lippen eines Beamten formten das Wort »schuldig«, und der Saal zerfiel in ein jubelndes und ein verzweifeltes Lager. Filmische Schnitte sorgten für einzelne Kurzauftritte: der trotzig den Kopf schüttelnde Angeklagte; diverse Verwandte und Schaulustige mit betont abgeklärter Miene; und ein Haufen glatt frisierter, austauschbarer Staatsanwälte, die sich mit dezentem Abklatschen und Händeschütteln gratulierten. Mitten in diesem Haufen stand, die Gedanken schon auf den nächsten Triumph gerichtet, Richard.
Am Abend machte ich einen großen Umweg zu Lily, um zwanzig Minuten zu spät zu kommen. Das hatte ich genau berechnet: Damit ließ ich ihr Zeit für ihre unvermeidliche Unpünktlichkeit, andererseits lief ich damit noch nicht Gefahr, als schlampig zu erscheinen, falls sie doch schon auf mich wartete. Aber heute Nacht musste ich ohnehin meine Gewohnheiten sorgfältiger Planung und Selbstbeobachtung hintanstellen und auf Initiative, Kühnheit, Improvisation zurückgreifen – lauter Tugenden, mit denen ich nicht besonders reichlich ausgestattet war. Viel stand auf dem Spiel.
Gleich am Anfang erwartete mich eine Überraschung, die sich allerdings im Vergleich zu den Ereignissen danach als eher unbedeutende Aufregung entpuppte. Lily tauchte nicht nur eine halbe Stunde nach dem von mir veranschlagten Zeitpuffer auf – was mich nicht weiter erstaunte –, sondern auch in Begleitung eines Kollegen, des hochgewachsenen Mannes, der Donalbain spielte. Lily stellte ihn als Liam vor und erklärte, dass er noch »auf einen Drink« mitgekommen war. Als sie sich ein Stück von uns entfernt niederließ, die Arme um die Knie geschlungen und mit den Füßen auf der Stuhlkante wie ein Kind vor dem Spätprogramm, erkundigte ich mich munter nach der Abendvorstellung (sie war gut
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