Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Praxis renovieren und feierte Wiedereröffnung. Inzwischen spähte das Tier im Speicherkäfig durch die Gitterstäbe und bereitete sich auf seinen Auftritt im nächsten und dunkelsten Hauptfall meiner Karriere vor.
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Sport und Spiele
Trotz der großen Beliebtheit der oben schon einmal erwähnten Filme über Missgeschicke beim Sport, die die slapstickhaften Einlagen von zusammenstoßenden Feldspielern und stoffzerreißenden Stöße von Billardqueues zu Unterhaltungszwecken ausschlachten, bleibt das Unerwartete unübertroffen. Es gibt einen Clip, eine klassische Vignette von exzentrischer Dramatik, die es zwar nie in eine Bestenliste von Pannen geschafft hatte, die ich mir aber in besonders langweiligen Momenten immer wieder gern vor Augen führte.
Ende der Achtzigerjahre bereiten sich Läufer bei einem Jugendwettbewerb in Leichtathletik auf den 100 Meter-Sprint vor: alles Jungen an der Schwelle zum Mannesalter mit angespannten Muskeln unter dünnen Netzhemden. Der Startschuss fällt, und auf der Außenbahn schnellt ein Schwarzer nach vorn und übernimmt die Führung. Im Vergleich zu einigen seiner Gegner wirkt er eher drahtig als kräftig, doch mit jedem Sekundenbruchteil tragen ihn seine anmutigen Schritte weg von den Verfolgern. Auf halbem Weg hat er das Rennen scheinbar in der Tasche. Dann kreuzt er unglaublicherweise in die Bahn links von ihm, stößt absichtlich mit dem dortigen Läufer zusammen und bringt ihn zu Fall. Tänzelnd entfernt er sich von dem Liegenden und schlingert in die nächste Bahn, wo er seinen Trick wiederholt und erneut den heranrauschenden Sprinter umrammt, ehe er davonschlüpft; so überquert er nacheinander die Bahnen und zieht nach zwei weiteren Opfern eine Spur von lädierten und erzürnten Athleten hinter sich her wie bei einer Massenkarambolage, ehe er als Vierter über die Ziellinie trabt: hinter den Läufern, die er nicht mehr rechtzeitig erreicht hat, aber vor denen, die er niedergemäht hat.
Zur Begründung gab er an: »Man muss nur Vierter werden, um ins Finale zu kommen.«
Der damals fünfzehnjährige Sprinter Webster Bruce wurde nach diesem Vorfall von allen Wettbewerben ausgeschlossen und entkam nur knapp einem Gerichtsverfahren nach einem Streit mit der Mutter eines seiner glücklosen Gegner. Die Sperre dauerte zwei Jahre: genug Zeit, wie der Sportausschuss befand, um »die notwendige Reife für eine anständige und respektvolle Teilnahme an Wettbewerben« zu erlangen; außerdem, so die unterschwellige Botschaft, eine Phase, in der die nach den Dopingskandalen der Achtzigerjahre um ihren Ruf kämpfende Leichtathletik von seinem destruktiven Verhalten verschont blieb. Statt jedoch neben Leuten wie Ben Johnson 20 auf der Müllhalde der Sportschurken zu landen, saß Bruce die Sperre ab und kehrte als stärkerer und besserer Athlet zurück – und so verrückt wie eh und je. Zwischen bemerkenswerten Rennerfolgen fand er auch weiterhin Gelegenheit zu dem einen oder anderen Streich. In einem Lauf reagierte er einfach nicht auf den Startschuss und blieb kauernd im Startblock stecken, bis die anderen die Ziellinie überquert hatten; ein anderes Mal tauchte er mit einem Fahrrad auf der Laufbahn auf und behauptete, die Sportarten verwechselt zu haben.
So schien es nur eine Frage der Zeit, bis der bei anderen Athleten gefürchtete und unbeliebte und von Puristen verachtete Webster Bruce sich die nächste Sperre einhandelte; als er bei den Ausscheidungen zu den Amerikanischen Jugendspielen von 1992 Zweiter wurde, bildete man eine Arbeitsgruppe, um seine Disqualifikation zu arrangieren, ehe er sich noch weiter nach vorn schob. Doch als die Offiziellen gerade Anstalten trafen, ihn wegen einer Formsache aus dem Verkehr zu ziehen, dämmerte ihnen, dass er etwas ganz Besonderes geschafft hatte: Er hatte die Herzen der Zuschauer erobert. Zum einen war er talentiert, zum anderen ausgesprochen unterhaltsam, eine charismatische Erscheinung in einem Sport, dessen Hauptattraktion jahrelang darin bestanden hatte, zwischen männlichen und weiblichen Athleten zu unterscheiden. Vor allem stand er jedoch für den von Sportjournalisten oft beschworenen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Mythos, der sich in der harten Welt der von Werbeinteressen gesteuerten Wettkämpfe nur selten erfüllte. Er stammte aus ärmsten Verhältnissen in der Bronx; nachdem sich sein Vater erschossen hatte, hatte ihn seine Mutter verlassen. Er war in einer Art Hundezwinger für Kinder aufgewachsen und hatte sich seine
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