Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
unterbrach ihn. »Es hat sich so ergeben, vielleicht musste es einfach so sein.« Noch einmal sah ich ihm in die halb geschlossenen Augen und beteuerte, dass es keine Rolle spielte. Das waren meine vorletzten Worte an ihn. Mit den letzten Worten sagte ich ihm, dass ich die Tasse Suppe geholt hatte, um die er mit seinen letzten gebeten hatte. In den zwei Minuten, die ich brauchte, um das Päckchen aufzureißen und das lauwarme Gericht zuzubereiten, glitt er hinüber, ein Tod so sanft wie das Schließen einer Limousinentür.
»Anscheinend kommen Sie gut damit zurecht«, bemerkte der Arzt, als ich mit klaren Augen beobachtete, wie der Leichnam zugedeckt wurde. Der Mann, der so oft über die Verbundenheit aller Menschenleben nachgegrübelt hatte, war jetzt ein einzelner Stichpunkt in den Registern einer Handvoll Leute. Beim Essen am Abend würde der Arzt zwischen zwei Bissen eine Bemerkung über ihn verlieren; und auch sonst würde die Nachricht von seinem Tod nur einige wenige Unterhaltungen kurz ins Stocken bringen.
Doch in meinem Leben war er die Quelle aller Bäche. Jetzt war ich sein Botschafter, und es war meine Aufgabe, die Dauer seines Einflusses zu verlängern.
Diese erhabenen Gedanken blieben mir allerdings in den überraschend normalen ersten Tagen und Wochen nicht erhalten, nachdem man ihn in das Stück Erde neben Mum gelegt hatte. Ich war auch nicht beunruhigt (wie dies etwa bei Lily der Fall gewesen wäre) von dem Wissen, dass ich das Kind des Fluchs von Witching war, das Symbol einer Tragödie, die das Leben ihrer Hauptdarsteller zerstört hatte; dass ich meinen Vater nie kennengelernt hatte und von meiner Mutter nie richtig geliebt worden war; oder dass ich mein ganzes Leben unter falschen Voraussetzungen geführt hatte. All das wurde in irgendwelche Winkel gefegt, als ich mich mit dem beschäftigte, was ein Therapeut vielleicht als Beginn der restlichen Lebenszeit bezeichnen würde. Allerdings ist »zurechtkommen« ein heikler Begriff, der etwas Eroberndes andeutet, doch eigentlich Anpassung und einen befristeten Waffenstillstand meint. Ich hatte den Eindringling nicht hinausgeworfen: die Wahrheit, die ich bewältigen musste. Ich hatte nur im Speicher einen Käfig eingerichtet, wo sie herumschleichen und an den Stäben rütteln konnte. Im Lauf der Zeit sollte ich immer wieder hören, wie sie durch meine ruhelosen Nächte schlurfte. Der fehlende Schlaf stumpfte meine Sinne bei Tag ab, und die Patienten flossen zu einer zähen Masse zusammen.
Lautstärke und Kontrast waren in meinem Leben auf ein Minimum reduziert. Schließlich nahm ich mir frei, doch mein unbeschäftigter Verstand verlor in den leeren Stunden noch mehr die Orientierung. Ich hätte mir fachliche Hilfe holen sollen, aber diese Tür versperrte der Stolz. Ich war Arzt, kein Patient, und so machte ich weiter und verschrieb Behandlungen, die ich selbst hätte gebrauchen können. Gelegentlich rief Richard an; mit der Zeit spürte er wohl, dass etwas nicht stimmte, aber ich erzählte ihm nicht alles. Das musste bis zu unserem nächsten Treffen warten. Ich hatte keine Ahnung, wann das sein würde.
Schließlich riss ich mich wenigstens so weit aus meinem Trott, dass ich für ein paar Wochen meine Praxis zusperrte und nach England flog. Im stillen Witching warf ich neun schwarze Plastiksäcke mit den Sachen meiner Eltern und Andenken meiner Kindheit weg und leitete den Verkauf des Hauses ein, in dem ich aufgewachsen war. Als Letztes entfernte ich aus der Stätte meiner Jugend das Foto meiner Mutter im Bad. Als ich es zum letzten Mal von der Toilette aus anstarrte, verwandelte sich die Miene vorwurfsvoller Distanz, die mich jahrelang fasziniert (und mir so viele Sitzungen in der Badewanne verdorben) hatte, eher in einen Ausdruck amüsierter Verlegenheit, als hätte sie mich gerade beobachtet. Trotz der engen verwandtschaftlichen Verbindung war nie Vertrautheit zwischen uns entstanden; wahllos waren wir in einem Theaterstück zusammengeworfen worden, das ewig lief. Ihrem neuen Blick konnte ich genauso wenig standhalten wie früher und starrte stattdessen auf meine Füße.
Nachdem das Haus veräußert war, kaufte ich ein neues in einer begehrten Gegend am Stadtrand von Chicago; ich kaufte ein fabelhaftes Auto, einen zukünftigen Urlaub und alles, wonach mir der Sinn stand. Ich meldete mich bei Fitnessstudios, Büchergemeinschaften und Clubs für Leute ohne besondere Interessen an, die einfach gern irgendwo Mitglied sind. Dann ließ ich meine
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